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Das Buch für Alle.
Hrft 4.
schlugen an, während der Förster neben seiner Gattin
eilig das verschneite Vorgärtchen durchschritt, am
Gatterthor die Anfahrenden zu erwarten.
Hinter ihnen, dem Beamten den Vortritt lassend,
erschien des Grasen Haushofmeister, von zwei Lakaien
gefolgt, welche, um das einzunehmende Mahl vor-
znbereiten, schon früh am Morgen mit Speisekörben,
Silberzeug und Tafelgeschirr eingetroffen waren.
Die Meinung des Vikomtes von der gesellschaft-
lichen Stellung seines Gastgebers stieg bedeutend. Er
fühlte den Grandseigneur. Desto lebhafter wünschte
er seine Tochter aus der Nähe eines Mannes fort,
dessen Galanterien nur dazu dienen konnten, einen
gefährlichen Samen in das empfängliche Herz Marie
Antoniens zu streuen.
Sobald die kleine Vikomtesse ihren Fuß auf die
Erde gesetzt, ergriff Herr v. Debellaire die Hand
seines schönen Kindes, nm sie allen weiteren Huldi-
gungen zn entziehen.
Diese Vorsicht erwies sich als unnötig, auch wenn
der Redefluß der Baronin sich nicht wie ein Wasser-
fall über die Anwesenden ergossen hätte. Die Tannen-
reiserausschmückuug des Zimmers, der erfrischende
Harzgernch mitsamt dem erquickenden Kaffeedufte
nahmen der guten Dame ganzes Interesse in An-
spruch. Wie hätte sie da Muße finden können, der
gezwungenen Haltung des Vikomtes, der Schweig-
samkeit des Grafen Mar nnd der wunderlichen Ge-
dankenversunkenheit ihrer Tochter Beachtung zu
schenken? Was wußte sie auch von dem unwider-
ruflichen Entschluß, der jetzt in Bettys Seele zur
Reife gediehen war?
„Ich stehle kein Glück. Und Sie sind nicht die
Fran, es mich stehlen zu lassen!" hatte er gesagt.
Aber Eduard Trachberg dieses Glück nehmen und
es Maximilian schenken — frei — offenkundig vor
aller Welt — das konnte sie, das wollte sie. Wenn
noch etwas sie zn diesem Vorhaben hätte aufstacheln
können, so waren es die Augen Marie Antoniens,
in welchen sie dasselbe las, was Herrn v. Debellaire
mit äußerstem Mißmut erfüllte.
Graf Maximilian, ohne Notiz zn nehmen von den
Interessen, welche sich aus seine Person konzentrierten,
hatte seinen Förster zn sich herangewinkt, ihm einige
Fragen über das Geweih eines Kapitalhirsches vor-
znlegen, welches der Graf dem glücklichen Schützen
kürzlich zum Geschenk gemacht. Zuvorkommender-
weise zog er anch den Vikomte in dieses weidmännische
Gespräch.
Nun hatte Debellaire für alles in der Welt mehr
Verständnis als für Jagdvcrgnügen, nichtsdesto-
weniger beeilte er sich, den höflichen Zuhörer zu spielen.
Ja, als der Graf sich erhob, ihm das fragliche Ge-
weih persönlich zu zeigen, erklärte er sich augenblick-
lich , wenn auch mit steifer Förmlichkeit, bereit, die
Jagdtrophäe in Augenschein zn nehmen.
Beide Herren begaben sich in das Nebenzimmer,
dem ausgestopfte Raubvögel und eine reiche Geweih-
sammlung einen hübschen Wandschmuck gewährten.
„Wenn es Ihnen gefällig wäre, Herr Vikomte!"
Graf Maximilian wies dabei auf einen Eichentisch,
welchen Holzschemel umstanden.
Der fragende Blick Debellaires bewies, daß er
den Zusammenhang dieser Aufforderung mit dem
Zweck ihres Eintretens nicht erfaßte. Gleichwohl ließ
er das schon erhobene Lorgnon fallen nnd folgte dem
lllanövei-Cpisvkle. (5. 43)
Wunsche des Grafen, sich ans einem der harten Sitze
niederznlasscn.
„Ich möchte noch einmal," begann der Graf, „meiner
Freude über Ihr ebenso unverhofftes als erwünschtes
Erscheinen unter uns Ausdruck geben."
Der Vikomte neigte sein graues Haupt leicht.
„Tie Pflicht —"
„Ganz recht, die Pflicht! Sie ist unter allen Um-
ständen ausschlaggebend, auch da, wo ihre Erfüllung
das Zartgefühl oder die Empfindlichkeit anderer ver-
letzen könnte."
Wieder neigte der Vikomte sein Haupt. „Eben
aus diesem Gründe," sagte er finster, „kann ich die
Empfindlichkeit der Baronin nicht schonen, seit sie
mein Kind den Händen irgend eines Emporkömm-
lings hat anslieferu wollen."
Der Graf lächelte. „Keine Sorge. Dieses Pro-
jekt ist gänzlich gescheitert. Das Herz Ihrer Tochter-
hat mit Herrn v. Kirchsteins Wünschen nicht das
geringste gemein. Anch nicht der Schatten einer Gegen-
neigung besteht darin."
Der Vikomte, des verräterischen Mienenspieles
seines Kindes gedenkend, welches ihm deutlich genug
bewies, wem sie ihr Herz geschenkt, zugleich auch
der in Aussicht stehenden Verlobung des Grafen mit
irgend welcher fürstlichen Dame, errötete vor Un-
willen. „Es würde," versetzte er mit mühsam bei-
behaltener Höflichkeit, „meiner innersten Ueberzcngung
entsprechen, wenn Marie Antoniens Verhalten nur
meiner Kritik unterläge."
„Nicht so ganz," fiel Trachberg mit gleichmäßiger
Ruhe ein. „Das allerdings vorausgesetzt, was ich
dieser Unterredung zn danken hoffe. Vor allen Dingen
lassen Sic mich Ihnen die Erklärung zu einer Ueber-
eile geben, die Ihnen befremdlich erscheinen muß.
Treu Ihren eigenen Traditionen werden Sie der
meinen volles Verständnis entgegenbringen."
Bei dem verführerischen Worte „Tradition" horchte
der Vikomte mit verschärftem Interesse auf. „Bitte!"
„Unser Hansgesetz," fuhr Trachberg mit leicht
ironisierendem Tone fort, „legt unserer männlichen
Linie in Bezug auf Verehelichung eine höchst unbe-
queme Beschräukung auf, deren Umgehung den be-
treffenden Abtrünnigen für sich und seine Nachkom-
men von der Nachfolge im Majorat ausschließt. Diese
Beschränkung betrifft die Abstammung der zn er-
wählenden Ehegattinnen."
Das Antlitz des Vikomtes belebte sich infolge dieses
seines Lieblingsthemas sofort.
„Die Ehegattinnen der Majoratshcrren unseres
Geschlechtes müssen väterlicher- und mütterlicherseits
durch füuf Generationen ihre adelige Abkunft be-
glaubigen können," lächelte Trachberg spöttisch. „Sie
sehen, ein Stück Pergament maßt sich die Herrschaft
über das lebendigste Gefühl an."
„In meiner Familie," versetzte der Vikomte mit
vorwurfsvoller Wichtigkeit, „in der Familie Debellaire
herrschen dieselben Grundsätze seit Jahrhunderten,
nnd niemand, ich bin der Letzte meines Stammes, hat
dieselben je verhöhnt."
„Jetzt treffen wir uns," fiel der Gras mit plötz-
licher Lebhaftigkeit ein, um einem weiteren Eingehen
in diese Materie vorzubengen. „Ich bitte um die
Hand Ihrer Tochter!"
Debellaire sprang auf. Das Wort versagte ihm
im ersten Augenblicke vor Ueberraschnng. „Verzeihen
Sie," sagte er dann, noch stark verwirrt von dem
glanzvollen Zukunftsbild, das sich ihm bot, „Jhr
Antrag trifft mich völlig unerwartet. Was die Be-
stimmungen des Hausgesetzes Ihrer Familie an-
belangt, so haben Sie allerdings eine durchaus passende
Wahl getroffen, die Familie Debellaire stammt aus
den Tagen Heinrichs von Navarra. Damals wurde
durch diesen der Sieur v. Ferrand mit der Baronie
Debellaire belehnt."
Das Buch für Alle.
Hrft 4.
schlugen an, während der Förster neben seiner Gattin
eilig das verschneite Vorgärtchen durchschritt, am
Gatterthor die Anfahrenden zu erwarten.
Hinter ihnen, dem Beamten den Vortritt lassend,
erschien des Grasen Haushofmeister, von zwei Lakaien
gefolgt, welche, um das einzunehmende Mahl vor-
znbereiten, schon früh am Morgen mit Speisekörben,
Silberzeug und Tafelgeschirr eingetroffen waren.
Die Meinung des Vikomtes von der gesellschaft-
lichen Stellung seines Gastgebers stieg bedeutend. Er
fühlte den Grandseigneur. Desto lebhafter wünschte
er seine Tochter aus der Nähe eines Mannes fort,
dessen Galanterien nur dazu dienen konnten, einen
gefährlichen Samen in das empfängliche Herz Marie
Antoniens zu streuen.
Sobald die kleine Vikomtesse ihren Fuß auf die
Erde gesetzt, ergriff Herr v. Debellaire die Hand
seines schönen Kindes, nm sie allen weiteren Huldi-
gungen zn entziehen.
Diese Vorsicht erwies sich als unnötig, auch wenn
der Redefluß der Baronin sich nicht wie ein Wasser-
fall über die Anwesenden ergossen hätte. Die Tannen-
reiserausschmückuug des Zimmers, der erfrischende
Harzgernch mitsamt dem erquickenden Kaffeedufte
nahmen der guten Dame ganzes Interesse in An-
spruch. Wie hätte sie da Muße finden können, der
gezwungenen Haltung des Vikomtes, der Schweig-
samkeit des Grafen Mar nnd der wunderlichen Ge-
dankenversunkenheit ihrer Tochter Beachtung zu
schenken? Was wußte sie auch von dem unwider-
ruflichen Entschluß, der jetzt in Bettys Seele zur
Reife gediehen war?
„Ich stehle kein Glück. Und Sie sind nicht die
Fran, es mich stehlen zu lassen!" hatte er gesagt.
Aber Eduard Trachberg dieses Glück nehmen und
es Maximilian schenken — frei — offenkundig vor
aller Welt — das konnte sie, das wollte sie. Wenn
noch etwas sie zn diesem Vorhaben hätte aufstacheln
können, so waren es die Augen Marie Antoniens,
in welchen sie dasselbe las, was Herrn v. Debellaire
mit äußerstem Mißmut erfüllte.
Graf Maximilian, ohne Notiz zn nehmen von den
Interessen, welche sich aus seine Person konzentrierten,
hatte seinen Förster zn sich herangewinkt, ihm einige
Fragen über das Geweih eines Kapitalhirsches vor-
znlegen, welches der Graf dem glücklichen Schützen
kürzlich zum Geschenk gemacht. Zuvorkommender-
weise zog er anch den Vikomte in dieses weidmännische
Gespräch.
Nun hatte Debellaire für alles in der Welt mehr
Verständnis als für Jagdvcrgnügen, nichtsdesto-
weniger beeilte er sich, den höflichen Zuhörer zu spielen.
Ja, als der Graf sich erhob, ihm das fragliche Ge-
weih persönlich zu zeigen, erklärte er sich augenblick-
lich , wenn auch mit steifer Förmlichkeit, bereit, die
Jagdtrophäe in Augenschein zn nehmen.
Beide Herren begaben sich in das Nebenzimmer,
dem ausgestopfte Raubvögel und eine reiche Geweih-
sammlung einen hübschen Wandschmuck gewährten.
„Wenn es Ihnen gefällig wäre, Herr Vikomte!"
Graf Maximilian wies dabei auf einen Eichentisch,
welchen Holzschemel umstanden.
Der fragende Blick Debellaires bewies, daß er
den Zusammenhang dieser Aufforderung mit dem
Zweck ihres Eintretens nicht erfaßte. Gleichwohl ließ
er das schon erhobene Lorgnon fallen nnd folgte dem
lllanövei-Cpisvkle. (5. 43)
Wunsche des Grafen, sich ans einem der harten Sitze
niederznlasscn.
„Ich möchte noch einmal," begann der Graf, „meiner
Freude über Ihr ebenso unverhofftes als erwünschtes
Erscheinen unter uns Ausdruck geben."
Der Vikomte neigte sein graues Haupt leicht.
„Tie Pflicht —"
„Ganz recht, die Pflicht! Sie ist unter allen Um-
ständen ausschlaggebend, auch da, wo ihre Erfüllung
das Zartgefühl oder die Empfindlichkeit anderer ver-
letzen könnte."
Wieder neigte der Vikomte sein Haupt. „Eben
aus diesem Gründe," sagte er finster, „kann ich die
Empfindlichkeit der Baronin nicht schonen, seit sie
mein Kind den Händen irgend eines Emporkömm-
lings hat anslieferu wollen."
Der Graf lächelte. „Keine Sorge. Dieses Pro-
jekt ist gänzlich gescheitert. Das Herz Ihrer Tochter-
hat mit Herrn v. Kirchsteins Wünschen nicht das
geringste gemein. Anch nicht der Schatten einer Gegen-
neigung besteht darin."
Der Vikomte, des verräterischen Mienenspieles
seines Kindes gedenkend, welches ihm deutlich genug
bewies, wem sie ihr Herz geschenkt, zugleich auch
der in Aussicht stehenden Verlobung des Grafen mit
irgend welcher fürstlichen Dame, errötete vor Un-
willen. „Es würde," versetzte er mit mühsam bei-
behaltener Höflichkeit, „meiner innersten Ueberzcngung
entsprechen, wenn Marie Antoniens Verhalten nur
meiner Kritik unterläge."
„Nicht so ganz," fiel Trachberg mit gleichmäßiger
Ruhe ein. „Das allerdings vorausgesetzt, was ich
dieser Unterredung zn danken hoffe. Vor allen Dingen
lassen Sic mich Ihnen die Erklärung zu einer Ueber-
eile geben, die Ihnen befremdlich erscheinen muß.
Treu Ihren eigenen Traditionen werden Sie der
meinen volles Verständnis entgegenbringen."
Bei dem verführerischen Worte „Tradition" horchte
der Vikomte mit verschärftem Interesse auf. „Bitte!"
„Unser Hansgesetz," fuhr Trachberg mit leicht
ironisierendem Tone fort, „legt unserer männlichen
Linie in Bezug auf Verehelichung eine höchst unbe-
queme Beschräukung auf, deren Umgehung den be-
treffenden Abtrünnigen für sich und seine Nachkom-
men von der Nachfolge im Majorat ausschließt. Diese
Beschränkung betrifft die Abstammung der zn er-
wählenden Ehegattinnen."
Das Antlitz des Vikomtes belebte sich infolge dieses
seines Lieblingsthemas sofort.
„Die Ehegattinnen der Majoratshcrren unseres
Geschlechtes müssen väterlicher- und mütterlicherseits
durch füuf Generationen ihre adelige Abkunft be-
glaubigen können," lächelte Trachberg spöttisch. „Sie
sehen, ein Stück Pergament maßt sich die Herrschaft
über das lebendigste Gefühl an."
„In meiner Familie," versetzte der Vikomte mit
vorwurfsvoller Wichtigkeit, „in der Familie Debellaire
herrschen dieselben Grundsätze seit Jahrhunderten,
nnd niemand, ich bin der Letzte meines Stammes, hat
dieselben je verhöhnt."
„Jetzt treffen wir uns," fiel der Gras mit plötz-
licher Lebhaftigkeit ein, um einem weiteren Eingehen
in diese Materie vorzubengen. „Ich bitte um die
Hand Ihrer Tochter!"
Debellaire sprang auf. Das Wort versagte ihm
im ersten Augenblicke vor Ueberraschnng. „Verzeihen
Sie," sagte er dann, noch stark verwirrt von dem
glanzvollen Zukunftsbild, das sich ihm bot, „Jhr
Antrag trifft mich völlig unerwartet. Was die Be-
stimmungen des Hausgesetzes Ihrer Familie an-
belangt, so haben Sie allerdings eine durchaus passende
Wahl getroffen, die Familie Debellaire stammt aus
den Tagen Heinrichs von Navarra. Damals wurde
durch diesen der Sieur v. Ferrand mit der Baronie
Debellaire belehnt."