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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 37.1902

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Heft 5
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112

Das Buch für Alle.

Hrst 5.

würde sich von der Vergangenheit in die Zukunft
hinüberflüchten!
Sein Arm zitterte. Aber sie spürte es nicht. Die
trostlose Gewißheit stand vor ihr, daheim nimmer
Trachbergs Stimme zu hören. Und ihr war's, als
sei mit dem Scheiden von ihm die Freude am Leben
von ihr genommen.

Siebentes Kapitel.
Der Vikomte trat in feierlicher Haltung in Marie
Antoniens Zimmer.
„Mein Kind," begann er, „du stehst vor einer-
ernsten Entscheidung."
„Wann reisen wir?" fragte sie mit tiefem Er-
schrecken.
„Davon später. Marie Antonie, Graf Trach-
bcrg ist im Salon. Er hat dir etwas mitzuteilen."
Damit öffnete er die Thür.
Sie fühlte ihr Herz bis in die Kehle schlagen,
als sie über die Schwelle trat. Allein befand sie sich
dem Grafen gegenüber. Der Vikomte hatte sich zurück-
gezogen.
Da erfaßte sie Angst und Bestürzung trotz aller
Freude. Wäre Trachberg nicht rasch neben sie ge-
treten, so hätte sie, wie ein furchtsames Kind, das
Zimmer wieder verlassen.
„So sehr fürchten Sie sich vor mir?" fragte er
mit dem einschmeichelnden Lächeln, das ihr Herz immer-
entzückt hatte. „Da habe ich also wenig Hoffnung,
gütig von Ihnen angehört zu werden."
Wie er sie jetzt vor sich stehen sah, scheu, hold-
selig und unreif, mit jedem Wimpernzucken ihm ihre
Liebe bekennend, kam ihm der Gedanke ungeheuerlich
vor, diesem kindlichen Wesen den Platz an seiner
Seite lebenslang einzuräumen, ihr Traumleben mit
seinem bewußten verschmelzen zu wollen. Und doch.
Die Umstände und ein inneres Drängen trieben ihn
dazu. Er nahm ihre Rechte.
Marie Antonie war bei dieser vertraulichen Be-
rührung Purpurglut in die Wangen gestiegen. „O,
ich fürchte mich nicht mehr!" sagte sie reizend lächelnd.
Er umschloß ihre Finger fester.
„Eine Frage wollte ich an Sie richten," sagte er
und weidete sein Auge an diesem Bilde mädchen-
hafter Anmut. „Wenn ich denken müßte, daß sie
Ihnen irgend welche Pein verursachte, thäte ich die
Frage gewiß nicht. Ich hoffe aber, in Ihrem Herzen
eine zustimmende Antwort zu finden."
Sie nickte verständnislos. „O gewiß!"
„Uns beide ganz allein geht es an — sonst nie-
mand in der Welt. — Wissen Sie, Marie Antonie,
weshalb ich vor Ihnen stehe? Haben Sie's nicht
geahnt bei meinem Anblick? Erraten Sie's jetzt noch
nicht?"
Daß er sie bei ihrem Namen nannte, versetzte ihre
Seele in eine so glückselige Verwirrung, daß sie alles
andere darüber vergaß und zu antworten unfähig war.
Er drückte ihre Hand an seine Lippen. „Ich
möchte wissen, ob Sie mir Vertrauen schenken können,
volles, unbedingtes Vertrauen, ob Sie die Wünsche
erwidern können, die ich hege, ob Sie die Meine
werden wollen?"
Voll dem Licht geblendet, welches diesen Worten
entströmte, schlug sie die Wimpern nieder. So ver-
wirrt war sie von der Wonne dieses Moments, daß
sie seine Bedeutung nicht sofort erfaßte. Am wenigsten
begriff sie so schnell, daß unter allen Frauen der
Erde er gerade ihr seine Liebe geschenkt habe.
Ihr Schweigen war beredt, wie ihr Anblick be-
zaubernd.
Er beugte sich tiefer zu ihr nieder. Das glän-
zende Los, welches er ihr bot, war wohl in, stände,
einige sentimentale Enttäuschungen, wenn solche sich
in diesem jungen Kopf und Herzen später einstellen
sollten, aufzuwiegen.
„Ob du mich lieben kannst, Marie Antonie?"
fragte er, ihre Schulter umschlingend. „Lieb haben,
wie ich dich lieb habe? Das nur will ich wissen!
Thu auf deine Seele, laß mich hineinsehcn!"
Daß er diese Forderung an sie stellte, fand er
äußerst natürlich. Aber er würde erstaunt gewesen
sein, hätte sie jetzt die gleiche Forderung an ihn ge-
stellt.
Nicht thräncnfrei war der Liebesglanz ihrer Augen,
als sie sich jetzt scheu an ihn schmiegte, flüsternd: „Ich
will — weil ich dich so sehr, so sehr lieb Habe!"
„Süßes Kind!" Er drückte sie an sein Herz.
Da empfand er den Jubelschlag des ihrigen. „Wir
wußten es beide, daß wir uns lieb hatten, wir
sagtcn's uns nur nicht. Denkst du noch an die Bilder-
galerie?"
Trotz verschämter Purpurröte lachte sie glückselig
auf, preßte die Arme um seinen Hals und fühlte
kaum vor lauter Wonne, daß er ihre Lippen mit
Küssen bedeckte.
Der Vikomte trat in den Salon.
„Papa!" rief die zukünftige kleine Erlaucht, und

riß sich von dem Geliebten los. „O Papa! Ich
weiß ja nicht —"
Er nahm ihr die Hände von den Augen. Seine
Stimme sollte scherzend klingen, aber es blieb beim
Versuch.
„Du weißt nicht, ob ich dich von mir lassen will?
Wenn du mir versprichst, deinem Manne eine ebenso
gute Frau werden zu wollen, als du mir eine gute
Tochter warst —"
„Ich will," sagte sie wieder. „Gauz gewiß! Ganz
gewiß!"
„Dann," fuhr der Vikomte fort, gleichzeitig Trach-
berg warm die Hand drückend, „dann danke ich dir
für das Glück, das du mir bereitest, mein Kind."
„Nur bitten möchte ich noch," fiel der Graf ein,
„unsere Verlobung so lange Geheimnis sein zu lassen,
bis ich in nachgesuchter Audienz —"
„Liebster Freund," unterbrach ihn Herr v. De-
bellaire und wies auf seine strahlende Tochter, „wo
denken Sie hin? Sollte diese Kleine hier der Baronin
etwas verheimlichen können? Sehen Sie sie doch
nur an!"
„Ach nein!" rief Marie Antonie, und Schloß
Holdenberg, dessen Besitzerin und Bewohnerin sie
bald sein sollte, stieg mit all seiner Herrlichkeit vor
ihren Gcistesaugen auf. „Das verlangt doch nicht!"
„Ich meine, ein Wort im Vertrauen —"
„Ist bisweilen eine nnoffizielle Anzeige," lächelte
Trachberg etwas geringschätzig im Hinblick auf die
ihm stark unsympathische Zungenfertigkeit Tante
Tinas. Er bedachte aber zugleich, daß wenn von
dieser Seite her Betty das Unabänderliche schleunigst
erfuhr, im wesentlichen allen gedient sei. „Doch wie
Sie meinen, ganz wie Sie meinen. Ich unterwerfe
mich."
Die Thür ging auf und Frau v. Lüttmig trat
ein. „Wenn es den Herrschaften jetzt gefällig wäre,
zum Frühstück zu kommen —"
Der Vikomte fiel ihr sehr unzeremoniell in die
Rede und sagte mit bezeichnender Handbewegung:
„Sie haben das Vergnügen, verehrte Cousine, ein
Brautpaar zu begrüßen, und sind jedenfalls mit mir
einer Meinung, daß niemals ein schönerer Herzens-
bund geschlossen ward."
Die kleine Vikomtesse aber stürzte der Baronin
um den Hals und rief: „Denke nur, Tante Tina,
denke!"
„Ich sehe!" rief Frau v. Lüttmig, die Annehm-
lichkeiten dieser Verbindung im Fluge ermessend, wäh-
rend sie Marie Antonie mit Küssen überhäufte. „Aber,
teures Kiud! Mich so zu täuschen, mich, deine mütter-
liche Freundin! Diese Rührung — lieber Gras —
Neffe — lieber Vetter —"
Trachberg begnügte sich, ihre Rechte leicht an seine
Lippen zu heben.
Anders Herr v. Debellaire, welcher ihr nunmehr
den Bankierssohn großmütig verzieh. „Ihnen, liebe
Cousine, danken wir allein diese frohe Stunde," sagte er.
„Den Umständen Rechnung zu tragen," fügte
Trachberg hinzu, Marie Antoniens Arm in den seinen
legend, „bitten wir, Ihre Güte noch weiter aus-
dehnen zu wollen und vorläufig Schweigen zu be-
wahren, bis Seine Königliche Hoheit —"
„Selbstverständlich! Selbstverständlich! Aber Betty
und ihrem Mann darf ich es doch gewiß mitteilen?"
„Gewiß! Bedurfte das wirklich der Frage?"
„Was wird Betty sagen! Was wird Betty sagen!"
jubelte Marie Antonie fast ausgelassen. „Daß wir
einen Namen tragen werden! Wie ich mich freue,
sie jetzt wiederzusehen!"
Der Graf sagte nichts. Er empfand ein unbehag-
liches Vorgefühl.
Dem Gabelfrühstück, welchem die Baronin mit
außerordentlicher Liebenswürdigkeit präsidierte, ge-
wann sie allein nicht den mindesten Geschmack ab.
Sie saß wie auf Kohlen, brennend vor Verlangen,
ihrer Tochter die verblüffende Neuigkeit zuzutragen.
Kaum daß Trachberg sich empfohlen hatte, als sie
sich gleichfalls von Vater und Tochter verabschiedete,
um zum Hause ihrer Tochter zu eilen.
Betty war zu Hause, noch nicht lange von einer
Ausfahrt zurückgekehrt. — Gottlob!
Ohne die Gegenwart des Dieners zu beachten,
stürzte Frau v. Lüttmig diesem voran und wie eine
Bombe in den blauen Salon der Gräfin, wo die-
selbe im Sessel vor dem Kaminfeuer die einzuleitende
Scheidung von ihrem Gatten sich im Geiste klar-
legte.
„Betty!" rief die Baronin, in naturgemäßer Atem-
not zunächst stillstehend. „Betty, denke —!"
„Was ist?" fragte Betty, erschreckt aufspringend.
„Was du nicht ahnst, woran kein Mensch gedacht
hat. Ich auch nicht. Immer die alte Geschichte, daß
etwas passiert, woran man nicht im geringsten denkt.
Ich sage dir, mir sitzt die Ueberraschnng noch in allen
Gliedern, sehe ich Marie Antonie, das arme Persön-
chen, die fürs Altjnngfernstift schon reif war — was
meinst du? Verlobt!"

„Verlobt?" wiederholte die junge Frau, ihre Stirn
in düstere Falten ziehend. „Wer? Marie Antonie?"
„Wer denn sonst? Natürlich! Aber mit wem?
Rate nicht erst. Mit Max!"
Die Gräfin, bei dem letzten Wort nach ihrer Brust
greifend, brach in ein schrilles Lachen aus, welches
ihrer Mutter Freude mißtönig durchgellte.
„Na, was ist deun? Was lachst du schon wieder?
Denkst du etwa, es sei Scherz? Ich komme hierher
gejagt —"
„Willst du Dank?" preßte die junge Frau müh-
sam zwischen den erbleichten Lippen hervor. „Für
diese Nachricht willst du Dank?"
Die Baronin, an einen Eisersuchtsausbruch gegen
die zukünftige Erlaucht und Majoratsherrin glaubend,
ließ sich erschöpft und verdrießlich in einen Sessel
fallen.
„Ich will gar nichts — du solltest es nur wissen!"
„Das also ist das Ende vom Liede!" murmelte
die Gräfin, ihre kalten Finger gegen die heiße Schläfe
drückend. „Meine Ahnung — meine Ahnung!"
Ein ungeheurer Schmerz, wie ein Messerschnitt
dnrch zuckendes Fleisch, ging ihr durchs Herz. In
Worte ließ sich dieses Leid nicht fassen, in Thränen
nicht lindern. Nur zu rächen war's.
Aber dazu gebrach's ihr jetzt an Kraft. Sie hatte
ein Ohnmachtsgefühl, mit einem erstickten Schrei sank
sie in den Sessel.
„Ich weiß nicht, Betty, wie du dich bei allem
anstellst," sagte die Baronin ärgerlich. „Immer gleich
ein Hallo und eine Scene. Man möchte am liebsten
kein Wort mehr zu dir reden."
„Dieses Geschöpf sein Weib," murmelte die junge
Frau, empfindungslos gegen alles, was sie umgab,
und preßte beide Hände gegen den Mund, die ver-
räterischen Laute zu ersticken. „Sie — dieses Narren
Tochter! O du weise, du liebreiche Mutter!"
Ihr Hohnlachen wandelte sich in bitteren Zorn,
während sie auf die ungeduldige Baronin zuschritt.
„Du bist die Ursache, du allein. Gewarnt wolltest
du nicht werden. Verständnis für andere hast du
nicht, sonst —" ihre Lippen begannen in Schmerz zu
zucken, „sonst hättest du dieses Mädchen, wie ich dich
inbrünstig bat, aus dem Hause geschafft."
„Du bist verdreht, Betty! Wahrhaftig, du bist
ganz verdreht! — Wenn du dich selbst in Max ver-
liebt hättest, toller könntest du dich nicht anstellen."
Betty war leichenblaß geworden bei diesen Worten
und biß die Zähne aufeinander.
„Was willst du eigentlich?" fuhr Fran v. Lüttmig
fort. „Nachdem du dich jahrelang um nichts geküm-
mert hast, während du mit Fug und Recht die Herrin
in Holdenberg hättest spielen können, fängst du plötz-
lich an, einer anderen den Platz zu neiden. Daß
Max eines schönen Tages heiraten mußte, wußtest
du ja wohl. Höheren Ortes wurde es längst ge-
wünscht. Nun also! — Da sei doch froh, daß er
statt der Fürstin Luise, deren Hochmut zuweilen un-
erträglich wird und dich wahrscheinlich am ersten
verletzt haben würde, dies harmlose kleine Mädchen
nach Holdenberg bringt, das uns jederzeit einen reichen
Tribut an Dankbarkeit und Ergebenheit zollen wird.
Angenehmeres konnte uns ja gar nicht passieren.
Wir werden unsere volle Rechnung dabei finden. Dir
auch — gerade du. Wenn du nur wolltest, könntest
du auf Max euren eminenten Einfluß anSübcn, deun
wenn er jetzt auch in das niedliche Ding verliebt ist,
geistig wird sie ihm nie genügen."
Die Brust der jungen Frau, von tausend Nadel-
stichen bei dieser praktischen Auseinandersetzung durch-
bohrt, war wie zusammengeschnürt. Zorn, Schmerz,
Liebe, Haß — alles hatte sie dort hineingedrängt zu
einer gärenden Masse, die ihr das Herz unter der
schillernden Seide sprengen wollte.
„Du hast recht," sagte sie mit unheimlicher Ruhe.
„Es mag besser so sein. Ganz gut so. Ganz gut!"
„Na, siehst du, Bettychen!" meinte Frau v. Lüttmig
erfreut und ohne das geringste Verständnis für die
ungeheure Kluft, welche zwischen diesen mechanischen
Worten und der ringenden Wahrheit lag, „nun bist
du wieder vernünftig. Erst muß man deine armen
Nerven austoben lassen, nachher bist du die aller-
beste. — Grüße deinen Mann."
„Er ist im Klub, und ich bin todmüde."
„Man sieht's dir an. Du solltest nie Champagner
trinken. Er geht dir ins Gehirn. Leg dich nieder.
Ich will jetzt nach Hause gehen und versuchen, etwas
mehr aus Marie Antonie herauszubringen. Sie ist
aus Rand und Baud vor lauter Glückseligkeit."
Sie küßte ihre Tochter auf die Stirn, nickte ihr
an der Thür noch einmal freundlich zu und ver-
schwand.
Lautlos blieb's im Gemach nach ihrem Fortgang.
Nur das Pendel der Kaminuhr schwang sich eintönig
tickend hin und her. Die junge Frau hatte das
fiebernde Antlitz in beide Hände gedrückt. So stand
sie lange — lange.
Zuweilen, wenn draußen der Wind in kläglichen
 
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