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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 37.1902

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Heft 6
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Arft 6.

137

Das Buch für Alle.

Reichtum dcS Grafen entsprachen. Marie Antonie
sprach und handelte wie eine Nachtwandlerin
Einen Moment glaubte sie zu vollem Bewußtsein
ihrer selbst zu erwachen, als das Geräusch rollender
Räder, welche sie wie im Fluge davonführten, an
ihr Ohr schlug.
Draußen war's Nacht, verlöscht der blendende
Lichtglanz, verstummt das rauschende Stimmen-
geschwirr nm sie her. Von all der Pracht, von Duft
und Scherz, von allen genossenen Triumphen war
nichts geblieben als tiefes Schweigen. Neber aller-
jauchzenden Freude ihres Herzens lag die Einsamkeit.
Sie tastete um sich. Der weiße Atlas knisterte
nicht mehr an ihrem Körper. Tante Tina hatte ja
den Myrtenkranz fortgenommen und den Reisehut
dafür auf ihr Haar gedrückt. Und wo war die silber-
gestickte Schleppe geblieben? Fort! Und sie selbst?
28ar sie wirklich auf dem Wege nach Holdenberg?
Mit ihm? Mit ihm, dem Gemahl und Geliebten?
Da schrie sie leise auf vor Glück.
„Was ist dir?" fragte er, ihren heißen Mund mit
seinen Lippen suchend.
Wieder kam der wonnige Traumzustand über ihre
lachende Seele.
Sie dachte nichts mehr.

Neuntes Kapitel.
Zu derselben Stunde, wo der Trinkspruch auf das
Brautpaar von dem fürstlichen Gaste an der Hoch-
zeitstafel ausgebracht wurde, lag Betty Trachberg
unter ihrem lichtblauen Baldachin wie eine Gestorbene
ans dem Schmerzenslager.
Die Ständerlampe zu Häupten des Bettes war
verlöscht. Nur die Ampel warf aus der Zimmer-
höhe ein mildes Dämmerlicht herab. Die Brust der
Kraulen hob ein Seufzer. Sie öffnete die Lider und
starrte ins Leere. So that sic nur, wenn sie allein
ivar, sonst hielt sie die Augen geschlossen. Sie wollte
die Menschen nicht sehen, die blinden Sinnes sich
an ihr abmühten, selbstsüchtige, vorwitzige Menschen,
die mit frevelhaftem Eifer den großen Tröster und
Befreier, den Tod, von ihrer Seite gedrängt.
O, diesen allmächtigen Helfer, wie rief sie ihn
noch jetzt an, wo seine Schatten sich weiter und weiter
von ihrem Haupt entfernten!
Die eingesunkenen Augen der Kranken gewannen
ein finsteres Feuer und einen dämonischen Glanz.
Wie Kohlen glühten sie unter den weißen Lidern
hervor.
Wochen, vielleicht Monate, sie wußte es nicht,
lagen zwischen jener niederschmetternden Stunde und
der Gegenwart. Sie fragte nie danach. In ihrem
armen Kopfe, der so grausam gelitten, konnten noch
jetzt klare Gedanken nicht lange haften. Dann war's,
als berge sich das Geschehene hinter Wolken und
zöge gleich einem unlösbaren Rätsel vorüber in weite,
graue Fernen.
Die Wärterin war an ihre Seite geschlichen und
wieder hinter dem Vorhang verschwunden. Der Arzt
kam und ging. Der Zeiger rückte vor. Sie regte
sich nicht.
Am Himmel stand der Vollmond, vor dessen Glanz
Marie Antonie ihr bebendes Antlitz an Maximilians
Brust barg. Durch den Vorhang quoll er auch über
Bettys Kissen und enthüllte den traurigen Verfall
ihrer Schönheit.
Draußen gingen leichte Schritte über den Korri-
dor. Sie erkannte sie plötzlich wieder. Aber das
quälende Frösteln in ihren Adern ward dadurch nicht
vermindert.
Leise öffnete sich die Thür. Eduard trat ein.
Seine Sehnsucht war zu groß geworden inmitten
der Festfreuden, denen er nicht hatte aus dem Wege
gehen können. Er hatte sich nicht einmal Zeit ge-
nommen, seinen Anzug zu wechseln. Im Frack, die
Gardenie im Knopfloch, eilte er an Bettys Lager.
Sie hielt die Wimpern geschlossen. Da küßte er
ihre Stirn voll Zärtlichkeit.
„Meine arme, liebe Betty, dn denkst doch nicht,
daß ich dich vergessen habe?"
Sie wollte sie von sich abschütteln — diese lieb-
kosende Hand, welche die Wunde nur tiefer grub, an
der sie litt. Aber die Kraft fehlte ihr. Zugleich regte
sich ein weicheres Gefühl in ihr, — das Mitleid mit
so viel treuer Liebe. Ihre Lippen zitterten.
Er sah es, und ermutigt durch diese erste Spur
von Teilnahme, setzte er sich auf den Bettrand nieder,
beugte sich über sie und küßte ihre Lippen.
Sie öffnete unwillkürlich vor Schreck die Augen.
Mit einem Verständnis, das sie selbst erschreckte,
blickte sie auf die weiße Krawatte um ihres Gatten
Hals, auf die Blume in seinem Knopfloch.
„Wo kommst du her?" fragte sie mit gebrochener
Stimme.
Er dachte an weiter nichts als an das Glück, sie
endlich wieder sprechen zn hören, und richtete sich

lächelnd empor. „Von Maximilians Hochzeit. Sie
sind jetzt schon längst in Holdenberg. Uebermorgen
reisen sie nach Paris. Willst du etwas hören von
dieser Haupt- und Staatsaktion?"
Er war so fröhlich, so voll Hoffnung durch diesen
ersten Beweis ihres wicderkehrendcn Interesses!
„Du kannst dir nicht denken," fuhr er sort, „wie
schön die kleine Braut aussah, und mit welcher Würde
der Vikomte seine Königreiche unter uns verteilte.
Maximilian wollte uns natürlich glauben machen,
daß er über so etwas wie Verliebtsein längst erhaben
sei, aber diesmal kam er mit seiner olympischen
Ruhe stark in die Brüche. Er war so verliebt, sage
ich dir, in seine Elfe, daß unsere Glückwünsche ihm
wahrscheinlich lächerlich erschienen sind. Die deinen,"
fügte er schmeichelnd hinzu, „hätten vielleicht noch
Wert für ihn gehabt."
Sie hatte mit brennenden Augen starr vor sich
niedergcschaut. Ein schmerzender Krampf, der ihr
das Herz zusammeupreßte, hob für Sekunden das
Bewußtsein wieder in ihr aus. Danach aber war's,
als risse eine dämonische Gewalt sie vom Kranken-
lager empor.
„War er ein zärtlicher Bräutigam?" murmelte
sie leise.
„Er ließ es stark vermuten."
„lind sie?" Ihre Finger zuckten, ohne daß sie es
merkte.
„Ach!" Er lachte. „Hast du nial einen Tau-
tropfen gesehen, welchen die Sonne bescheint? Wo
ihn der Strahl auch treffen mag, er erglänzt darunter.
So auch Marie Antonie. Max wurde auch nicht
schlecht beneidet."
„Und meine Mutter?" flüsterte sie mit erlahmen-
der Fassungskraft.
„Obenauf wie nie! Sie hat ja allen Grund, stolz
zu sein, denn sie allein ist die Ursache, daß diese
Heiden nun ein Paar geworden sind, und Holdenberg
endlich eine Herrin erhalten hat. — Aber du wirst
nun müde sein. Morgen erzähle ich dir mehr. Der
Vikomte reist schon in der Frühe ab. Er läßt sich
dir auf das angelegentlichste empfehlen, überhaupt
alle lassen dich grüßen."
„Maximilian auch?" fragte sie mit unheimlich
leuchtenden Augen.
„Nein, das kannst du heute unmöglich von ihm
verlangen!" scherzte der Graf, sich erhebend. „Der
hatte andere Dinge im Kopf. Ich glaube nicht, daß
ihm heute ein zweiter Gedanke als an seine erlauchte
Kleine gekommen ist. Also gute Nacht, Bettychen!
Gute Besserung, liebes Herz!"
Er drückte leise den Thürgriff nieder und ver-
schwand.
Sie sah ihm nicht nach. Das Beisammensein
war schon vergessen. Eine Thatsache allein wirkte
in ihr fort wie ätzendes Gift, das sie nicht aus-
scheiden konnte, und unter dessen Wirkung fortzu-
leiden sie martervoll gezwungen war. Maximilian
war Marie Antoniens Gatte und entzückt von ihr!
Und sie, und sie, die wie eine Betteldirne ihm zu
Füßen gelegen, daß er sie anshöbe und mit einem
Almosen der Zärtlichkeit beglücke! Sie, die wie eine
Irrsinnige an ihn sich geklammert, die ihm schenken
wollte, was er ungerührt von sich wies! Sie, die
um seinetwillen alles von sich geworfen, Stolz, Ehre,
Schönheit — sie lag hier auf dem Folterbett der
Schmerzen!
Der Vollmond war lange niedergegangen. Betty
Trachberg suchte keinen Schlummer. Sie fühlte, daß
sie leben wollte, aber sie fühlte auch, daß es nicht
die beseligende Freudigkeit am wiedererstarkten Da-
sein war, welche sie empfand, die das Herz mit Dank,
die Seele mit glücklichem Hoffen füllt, sondern Rache-
durst gegen den Mann, der sie verschmäht, Haß gegen
das Weib, das er liebte.
Während ihre Gedanken mit glühendem Schmerz
die schweigenden Räume des Holdenberger Schlosses
durchschweisten, rüttelte sie sich gewaltsam aus dumpfer
Lethargie, aus schlaffer Todessehnsucht empor. Nein,
sie wollte nicht aus der Welt flüchten, sie wollte den
Anteilschein eines Gewinnes, den sie noch in Händen
hielt, nicht mehr fahren lassen: das Leben.
Bedeutete dieses Fortleben nicht bereits einen
Triumph für sie? Wie oft mochte Maximilian Trach-
berg ihren Tod erhofft und ihre Genesung verwünscht
haben! In dieser Gewißheit lachte sie fast auf.
Wenn das eine Krisis zu nennen war, so hatte
die junge Frau sie glücklich überstanden.
Der nächste Morgen fand sie zur Freude und
Ueberraschung ihrer ganzen Umgebung erfrischt und
anteilnehmend.
Die Baronin, welche nach so wechselvollen und
hingehetzten Tagen nichts Besseres zu thun wußte,
die uugewohute Einsamkeit zu bannen, als am Lager
ihrer Tochter die ganze Verlobungs- und Hochzeits-
geschichte Marie Antoniens bis ins kleinste zu be-
schreiben, sand in ihr die geduldigste und aufmerk-
samste Zuhörerin. Dabei war es ganz ausgeschlossen.

daß ihrer Oberflächlichkeit der stechende Glanz im
Auge der jungen Frau aufgefallen wäre, noch deren
herbes Lächeln, sobald der Wortreichtum der Baronin
das Glück des jungen Ehemannes mit den glühendsten
Farben malte.
Aber auch dieses Stadium ging vorüber. Für
die Außenwelt gab's nichts Sonderliches mehr zu
bemerken, als Betty Trachberg in ihrem Lehnsessel
neben dem stetig flackernden Kaminfeuer wieder Be-
suche empfing. Sie zeigte sich ganz überzeugt von
der allgemeinen Mutmaßung einer Jahre hindurch
sich in ihr vorbereitet habenden Krankheit. Besser-
konnte es ja gar nicht in ihre Bestrebungen hinein-
passen, diese blöde Welt zu täuschen, wie sie es bis-
her gethan.
Nur in einem Punkte hatte Wandel in ihr Platz
gegriffen: ihre Stimmung für Eduard war weicher-
geworden.
Als sie znm erstenmal schwankend sich vom Sessel
erhoben hatte und zum Spiegel geschlichen war,
fnrchtzitternd und doch unwiderstehlich vorwärts ge-
drängt, als sie einen Blick, scheu uud gierig zugleich,
in das Glas gethan hatte, da dachte sie höher als
bisher von Eduards Liebe.
Dieses hagere, blutleere Weib, dessen Stirn dünnes,
knrzgcschnittenes Haar deckte, hätte Eduard Trach-
berg fliehen müssen, wenn seine Liebe nur ihrer Schön-
heit gegolten hätte.
Mit kluger Berechnung suchte sie durch ihre gei-
stige Ueberlegenheit die Fessel zwischen sich und ihm
noch enger zn ziehen. Sie bedurfte eines fügsamen
Begleiters auf der Reise, durch welche sie Maxi-
milians und Marie Antoniens Rückkehr ausweichen
wollte. Ihrer Mutter Gesellschaft hätte sie auf keineu
Fall für diesen Zweck begehrt, denn sie fühlte sich
noch immer bis znm äußersten erschöpft, wenn solch
eine marternde Plauderstunde überstanden war.
„Du bist und bleibst wirklich undankbar," sagte
Frau v. Lüttmig verdrießlich, als die Aerzte den
Wunsch ihrer Tochter, den Zeitpunkt der Abreise thun-
lichst zn beschleunigen, endlich bewilligten. „Jetzt,
wo ich noch ein paar Wochen ganz allein bleiben
muß, willst du auch fort. Als ob nicht Zeit genug
wäre, wenn die Holdenberger zurück sind. Du bist
doch jetzt so weit hergestellt, wenn auch noch matt,
daß es dir auf vierzehn Tage früher oder später nicht
ankommen kann. Besser als hier von uns kannst
du nirgends gepflegt werden. Warte noch vierzehn
Tage!"
„Nein!" Die junge Fran hatte ihre Hände über
dem Knie gefaltet und den Kopf gegen die Sessel-
lehne gedrückt.
„Nein! Immer nein! Ob ich wohl jemals ein
Ja von dir hören werde? Mit Marie Antonie ver-
kehrte fich's wirklich besser. Ich sage dir, sie hat
noch unter dem Brautkranz, in Max' und des Vikomtes
Gegenwart, die Stunde gesegnet, wo ich in ihr Haus
trat. Ich möchte wohl wissen, wann du je meine
Bemühungen segnetest."
„Ich bin noch nicht gesund," fiel Betty leise ein.
Ihre Gedanken waren wert weg von diesen mütter-
lichen Klagen.
„Das ist das erste, was ich wieder höre!" rief
die Baronin ärgerlich. „Gestern sagtest du zu Ex-
cellenz v. Boden gerade das Gegenteil, als sie kam,
sich im Namen der Großherzogin nach deinem Be-
finden zu erkundigen. Was ist nun wahr?"
„Was ich dir sage," murmelte sie mit gefurchter
Stirn. „Mein Gehirn hat zu viel gelitten. Der
Druck hier muß fort. Wenn ich so sitze und plötz-
lich ausfchrecke —"
„Was schreckst du denn um Himmels willen auf?
Im Hause schleicht ja schon alles aus Filzsohlen um-
her. Leine unhörbare Dienerschaft ist eher zum Lachen,
als zum Erschrecken. Sieh mal, Edi würde doch auch
gewiß das junge Paar gern empfangen helfen!"
„Eduard geht lieber mit mir, ich weiß es."
„Nun also, gut!" sagte Frau v. Lüttmig resigniert.
„Reist —heute uoch meinetwegen! Wie lange wollt
ihr fortbleiben?"
„Ich weiß es nicht," murmelte die junge Fran,
ihr kurzes Haar von den Schläfen streichend. „Hier-
ist nichts zn versäumen."
„Und wohin soll die Reise gehen? Wenn anders
du so viel Interesse an mir nimmst, mich dies wissen
zn lassen, damit man nicht durch seine Unwissenheit
vor den Leuten lächerlich wird."
Betty sah forschend in den leuchtenden Frühlings-
tag, der seine Lichtwellen gerade so verschwenderisch
durch die Scheiben sandte wie damals, als sie Maxi-
milian ihre Liebe verriet Wenn ihr jemand da-
mals die Zukunft entschleiert hätte! Ein stechender
Schmerz huschte wieder durch ihre Schläfen. War
eine Wunde geheilt, die nicht die leiseste Berührung
ertrug? Bitteres Höhnen durchzuckte ihr leidendes
Gesicht.
„Oder soll euer Aufenthalt etwa Geheimnis für
mich bleiben?" fuhr Frau v. Lüttmig gereizt sort.
 
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