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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 37.1902

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Heft 11
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062

Das Buch für Alle.

Helt I I.

Ach, er schlief fast immer! Marie Antonie dachte
cs mit fiebernder Ungeduld. Warum war gerade
ihr Sohn so müde? Warum ließ er sich geduldig
tragen und versuchte nicht lieber die eigene Kraft zn
erproben? Und warum legte sich, wenn er schlief,
statt der gesunden Schlnmmerröte eine durchsichtige
Blässe wie ein Schleier über sein Antlitz?
„Baby schläft nach dem schweren Wein immer,"
sagte die Wärterin.
' „Dann geben Sie ihm keinen Wein," fiel Marie
Antonie dringend ein.
„Der Arzt, Mylady - "
Jawohl, der Arzt! Des Kleinen blutarmer
Körper sollte eine Stärkung erfahren. Dazu wurden
immer neue, immer kostbarere Mittel angeschafft. Der
kleine Schläfer atmete nur Tannenduft und Ozon-
luft in seinem Reich. Mit den feinsten hautkräftigen-
den Spezereien mischte man das Wasser, darin er
gebadet ward, nur daß der erzielte Erfolg in keinem
Verhältnis zu der aufgewandten Mühe stand.
Marie Antonie hielt die kleine kühle Hand auf
der blauen Seidendecke lange in der ihren, bevor sie
sich niederbeugte, die Lippen ihres Sohnes zu küssen.
Ihr Mutterherz fühlte wohl Befriedigung, aber
Freude und Erquickung fand es nicht. Trost noch
weniger. Bedrückter als sie gekommen, zog sie sich
lautlos zurück.
Als sich die erste leichte Flockeudccke über die
Türme des Holdenberger Schlosses spannte, hielt der
Wagen des Justizrats vor dem Portal.
Der Graf empfing ihn mit scharf musterndem Blick.
Dann wandte er sich zur Seite und drückte auf die
Klingel.
„Ihre Erlaucht möge die Güte haben, sich einen
Augenblick hierher zu bemühen!"
„Ich bin untröstlich —" sagte Geisler.
„Warten Sie noch einen Moment," fiel Trach-
berg ein. „Ich möchte die Entscheidung, die doch
nun einmal unabwendbar ist, in Gegenwart meiner
Frau empfangen. Sie ist eingeweiht."
Das lebensfrohe, so gern schelmisch lächelnde Antlitz
des alten Herrn war sehr ernst. Er sah vor sich nieder
und schaukelte sein Augenglas langsam hin und her.
Durch die Halle rauschte Marie Antoniens leichter
Schritt. Der Leibjäger des Grafen öffnete die Thür.
Sie trat ein.
„Herr Justizrat —!"
Er trat ihr hastig entgegen, nahm die Hände,
welche sie ihm wie erlöst aus unerträglicher Span-
nung lebhaft entgegenstrcckte, und drückte sie. „Wenn
ich auf mein Leben zurücksehe," sagte er bewegt, „auf
ein Leben, reicher an schweren als an frohen Stun-
den, so finde ich, daß ich jetzt vor einer meiner
schwersten Aufgaben stehe, weil es eine von mir hoch-
verehrte, nur allezeit gütig gesinnt gewesene Dame
ist, welcher ich Kummer zufügen muß."
„Lasseu Sic das, ich bitte darum!" fiel Trachberg
ein, aber auch seine Stimme klang erschüttert. „Wir
werden von diesem Ereignis schon so hinreichend
außer Atem gesetzt, daß wir thuulichst Worte sparen
wollen. Haben Sie die Güte, uns das Resultat —
ich meine, das Resultat - "
Er fuhr nicht fort, sondern wandte sich zum Fenster,
gegen dessen Brüstung er sich mit gekreuzten Armen
lehnte, den Blick finster zu Boden gerichtet.
Marie Antonie dagegen trat näher zu ihrem er-
gebenen Freunde mit vor Spannung leicht geöffneten
Lippen und fest ineinander gedrückten Händen.
„Nun denn," sagte Geisler mit gedämpfter Stimme,
„die Oeffnung des Grabes in dem lothringischen Dorfe
vollzog sich im Rahmen gesetzlicher Vorschriften fast
im stillen. Außer dem aufsichtführenden Richter
und dem Kreisphysikus waren nnr der Ortspfarrer
und einige Arbeiter zugegen. Die frühe Morgen-
stunde hielt die Dorfbewohner noch im Hause fest.
Das Fundament des Denkmals war gut gelegt wor-
den und schwierig herausznheben. Es war die einzige
Arbeit, welche anfhiclt. Man reinigte die Buch-
staben der Inschrift sorgfältig und las alsdann ganz
deutlich: „Louis Amadse Vikomte de Tebellaire."
„Doch könnte vielleicht —" stieß Marie Antonie
fieberhaft erregt hervor.
„Nein, Euer Erlaucht, die Sache entschied sich
schnell. Die Knochcnreste, die gefunden wurden, lagen
im Erdreich verstreut neben Fetzen von silbernen
Tressen und verrosteten Metallknöpsen. Ein Teil
des Schädels mit einer halbseitigen zahnlückigen Kinn-
lade kam gleichfalls zum Vorschein — der Schädel
eines alten Mannes."
„Also doch!" murmelte der Graf vor sich hin.
„Also doch!"
„Nein, nein! Das ist kein Beweis!" ries Marie
Antonie, außer sich gebracht durch den Gedanken an
ihren nichts ahnenden Vater. „Der Schädel kann
nicht sagen: ich gehörte dem Herrn v. Debellaire an.
Wer will denn beweisen, daß man nicht einen anderen
in dieses Grab gelegt hat?"

„Marie Antonic " sagte Trachberg mahnend.
„Nein, ich muß endlich über diese entsetzliche Sache
sprechen," rief sie, ihre Hand ans den Arm des
Justizrats legend. „Ich muß für diese furchtbare
Last Worte finden. Ich bin's ja, auf welche sich alles
zurttckwälzt. Was Sie auch anführen mögen, mich
trifft es zuerst. Und ich leide doppelt darunter, drei-
fach, denn ich leide mit für meinen Mann, für meinen
Sohu, für - "
„Marie Antonie!"
Eine nie gekannte Erregung in der Gegenwart
des Justizrats ließ sie diese Mahnungen überhören.
„O, du weißt nicht, was ich bereits gelitten habe!"
rief sie mit zitternden Lippen. „In die schamvolle
Angst meiner Liebe kannst du dich nicht versetzen.
Was du leidest, das leidest du unverschuldet — das
muß dir ein Trost sein. Aber ich, an der die Schuld
Verstorbener jetzt lebendig wird, die für das verant-
wortlich gemacht wird, was andere verschuldeten, -
ich, vom Schicksal auserkoren, den Namen Debellaire
zu tragen, und dann um dieses Namens willen ge-
zwungen, alle, die ich liebe —" sie schwankte.
Trachberg eilte zu ihr und nahm sie in seine Arme.
Ein Feind jeder aufregenden Scene und rückhaltlosen
Auslassung, fühlte er sich besonders durch die Zeugen-
schaft eines dritten unangenehm berührt.
„Ich bitte dich, Marie Antonie," sagte er, ihr
Haupt stützend, „zieh dich zurück, wenn du dem Er-
eignis nicht gewachsen bist. Ans diese Weise können
wir die Sache, nach deren Abschluß mich innigst ver-
langt, nicht zu Ende führen."
Sie richtete sich auf. „Es ist schon vorüber,"
versetzte sie leise. „Ich werde den Herrn Justizrat
nicht mehr unterbrechen. Bitte, Herr Justizrat, fahren
Sie fort."
„Ich erwähnte schon," begann Geisler von neuem,
„daß Fetzen von silbernen Tressen und eine Anzahl
verrosteter Metallknöpfe, die einst vergoldet gewesen
waren, in dem Grabe aufgcfnuden wurden. Au den
Tressen war sogar noch das Muster des Gewebes
erkennbar geblieben, nachdem sie von Schmutz und
Moder gereinigt worden waren. Es fand sich aber noch
ein ganz unscheinbarer, beinahe übersehener Gegen-
stand daselbst vor der Stein eines Siegelringes,,
ein Amethyst von bedeutender Größe, der ans der
Fassung herausgefallen und etwas tiefer als die
anderen Gegenstände ini Erdreich eingebettet lag.
Dieser "Amethyst zeigte gereinigt folgende durch Punkte
getrennte Buchstaben: A.. V. ä. v. — Sie um¬
stehen das Wappen der Familie Debellaire."
Marie Antonie schrie ans, erschrak dann vor sich
selbst, wandte sich hastig zur Thür und verließ das
Zimmer.
Trachberg machte keinen Schritt, sie aufzuhalten.
Er war wie an den Fußboden gebannt. Wie groß
seine Fassung anch gewesen war, in diesem Moment
überkam ihn ein Schwindel.
„In der Eile oder mit Absicht — wer weiß es?
— hat man am Ringfinger des verstorbenen Vikomte
dieses Schmuckstück belassen," sagte Geisler, sorg-
fältig ein Papier aus seiuer Brieftasche nehmend und
es dem Grafen hinreichend. „Wollen Euer Erlaucht
sich überzeugen. Dies ist der Abdruck —"
Trachberg nahm das Blatt mechanisch entgegen
und starrte auf das rote Siegel. Die Buchstaben,
das Wappen, die Punkte verwirrten sich vor seinen
Augen. „Es ist gut," sagte er, das Blatt zurück-
reichend. „Ich danke Ihnen für Ihre Bemühungen."
Er griff nach der Sessellehne. Aber seine eiserne
Willenskraft ließ ihn dieses erste und letzte Gefühl
der Schwäche rasch überwinden.
„Wollen wir uns setzen, lieber Jnstizrat," sagte
er ruhig, als habe nichts Außerordentliches zwischen
ihnen stattgefunden, „und der Sache näher treten."
„Es kommt nun daraus au," erwiderte Geisler,
mit einer Verbeugung dieser Aufforderung nachkom-
mcnd, „welchen Weg Euer Erlaucht Anhalten wollen
Ihrem Gegner gegenüber, den Weg des Prozesses
um einen noch unaufgeklärten Punkt, nämlich die
unbekannte Person des zweiten Gatten der Gräfin
Debellaire, oder —"
„Das heißt den Skandal vergrößern und die Ent-
scheidung ohne Nutzen in die Länge ziehen," fiel
Trachberg finster ein. „Wollen wir noch mehr Staub
aufwirbeln? Ich habe die Ueberzeuguug, meine Frau
ist keine Debellaire."
„Dann räumen Euer Erlaucht also Ihrem Vetter
freiwillig den Platz?"
„Freiwillig?" Trachberg lachte auf. „Freiwillig!
Wissen Sie, daß Sie spaßig sind, alter Freund? Ich
ziehe mich als ein Opfer der Narrheit und der Ver-
liebtheit der seligen Vikomtesse Debellaire zurück, weil
ich nicht anders kann, als mein Recht als erloschen
ansehcn. Könnten Sie mir nnr den leisesten Anhalt
geben, der Gräfin Trachberg die Waffe aus der Hand
zn winden —"
Geisler zuckte die Achsel. „Es ließe sich Zeit
gewinnen, sobald Euer Erlaucht beantragte, daß

von gegnerischer Seite der Beweis erbracht würde,
daß die zweite Ehe der weiland Gräfin Debellaire
mit einem Kammerdiener und nicht mit einer stan-
desgemäßen Person geschlossen worden sei."
„Glauben Sie, daß die Gräfin Trachberg diese
Finte nicht parieren wird?" rief der Graf aufstehend.
„In welche Sackgasse wollen Sic mich führen? Sie
selbst haben mir eingeprägt, daß die Abstammung
meiner Frau von dem Emigranten Debellaire der
springende Punkt in dieser Sache ist, also —"
„Es würde wenigstens Zeit gewonnen. Wie ich
das Vorgehen der Gräfin beurteile, kommt es ihr ledig-
lich auf Anerkennung der Rechte ihres Mannes, nich:
aber auf "Ausnutzung derselben an. Bei ruhiger Neber-
legung köuute immerhin —"
„Ich brauche keine Ueberlegung mehr, dieser un-
erträglichen Halbheit ein Ende zu machen," rief
Trachberg schroff dagegen. „Lieber Justizrat, wenn
ich nur an mich zu denken hätte, so gebe ich Ihnen
mein Wort, der Kampf würde ausgesochten. Aber
ich kann es nicht dulden, daß der Name meiner Fran,
ihre Person, ihre Familie, unser gegenseitiges Ver-
hältnis — kurz alles, was in die Obhut der intimen
Häuslichkeit gehört, Gegenstand öffentlicher Bespre-
chung werde. Es ist die Rücksicht ans meine Frau,
die mir Fesseln anlegt."
Er schwieg einige Sekunden, dann fuhr er rascher
fort.
„Ich muß Ihnen ganz ehrlich gestehen, jeder
Stammvater wäre mir persönlich wünschenswerter
gewesen als gerade ein Bedienter, Sie werden das
mit mir fühlen können. Es klebt etwas — etwas,
wie soll ich sagen? - etwas Trinkgeldschäbiges daran.
Wir wollen das keinesfalls in die Oeffentlichkeit
bringen. Zu zweifeln ist ja an der Thatsache kaum
noch."
„Die Sache," erwiderte Geisler, „liegt nach meiner
Auffassung so, daß zwischen der Vikomtesse und dem
Kammerdiener des alten Vikomte bereits vorher —"
„Ach, natürlich!" schnitt ihm der Graf, aufs
äußerste gereizt, das Wort ab. „Die Geschichte klappte
schon vorher. Daher die rührende Treue. Derartige
Menschen bringen sich sonst zuerst in Sicherheit."
„Der Vikomtesse," schaltete Geisler lebhaft ein,
„ist es aber jedenfalls darum zn thun gewesen,
Vikomtesse Debellaire zu bleiben und nicht Madame
Mennier oder Dubois zu werden. Daher schob sie ein-
fach den Kammerdiener während der Reise an die
Stelle ihres verstorbenen Gemahls und ließ ihn zum
Vikomte avancieren vor der Welt. Die kirchliche
Trauung hat dann unterwegs stattgefnnden. Die
Reise von Nancy bis Würzburg bot überall Gelegen-
heit dazu. Nur ist es unmöglich, dies urkundlich
festznstelleu. Aber das alles ist durchaus nebensäch-
lich für unseren Fall."
„Gewiß! Von der im Hausgesetz geforderten
altadeligen Abstammung meiner Fran kann in jedem
Falle keine Rede mehr sein. Und ich muß mir das
Majorat entreißen lassen. Es ist ein unabwend-
bares Verhängnis."
Seine innere Unruhe hatte ihn die letzten Worte
lauter betonen lassen. Auf Marie Antoniens Wangen
löschten sie die Farbe. Sie hatte Kraft genug be-
sessen, in die Halle zn treten, aber neben der Schwelle
wurde ihre Schwäche so heftig , daß sie das Haupt
gegen die Thür des eben verlassenen Zimmers lehnen
mußte.
Das unabwendbare Verhängnis! Ja, sie war
Maximilians Verhängnis geworden. Sie richtete sich
ans. Wie eine ertappte Verbrecherin hielt sie Um-
schau in dem Raume, ob niemand außer ihr diese
"Anschuldigung gehört, und beladen mit einer Last,
die sie glaubte nicht mit sich schleppen zu können,
schlich sie in ihr Zimmer.
Thränen wollten aus ihren Augen stürzen, aber
die innere "Angst hielt sie schmerzhaft hinter den Wim-
pern zurück. Nun würden die Tage kommen und
gehen, ach, kommen und gehen bis ans Lebensende,
- und der Mann, dem sie angehörte, würde schwei-
gend neben ihr wandeln, neben ihr und dem Kinde,
in dem er viel mehr ein Pfand der Zukunft als ein
liebcbedürftiges Wesen gesehen.
Ja, kommen und gehen würden die Tage, bleiern,
grau, hoffnungslos. Marie "Antonie fröstelte wie im
Fieber.
Nie würde ein Wort des Vorwurfs über Maxi-
milians Lippen gehen, das wußte sie, aber sein Blick,
sein ganzes verpfuschtes Dasein würde eine stete
stumme Anklage gegen sie sein. Diese Gewißheit
lähmte ihren Lebensmut vollends.
Sie konnte ja nicht helfen. Sie und ihr Sohu
konnten mit ihrer Liebe diese tief geschlagene Wunde
nie ausheilcn.
Und dann: einer war da, dem sie heute noch
wie ehedem Zweck und Freude des Lebens war, einer,
über dessen Alter der grimmigste Hohn und Spott
ausgeschüttet werden sollte — ihr Vater. Der letzte
Tebellaire, mit seinem Familienstolz, mit seinem aus
 
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