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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 37.1902

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Heft 15
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https://doi.org/10.11588/diglit.44085#0361
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358

Das Buch für Alle.

Hrft

- Als sie, ohne zn sprechen, die Augen schloß, nm-
saßtc er sic und führte sie in ihr Zimmer zurück.
In dem dnrchkülteten, dürftigen Raum packte ihn
sähe Wut gegen die schmachvolle Verleumdung, zu
deren Vertreter sich auch Herr v. Kirchstein gemacht
hatte.
Er ließ Marie Antonie ans ihr Bett nicdergleiten,
setzte sich auf den Rand desselben und erfaßte ihre
beiden Hände.
„Wohin wollten Sie? Was hatten Sie vor?
Wovor habe ich Sie bewahrt?"
Er hatte sich tief zu ihr niedergebeugt, ihr Aus-
sehen zu erkennen.
„Fort" — murmelte sie — „zu meinem Vater —
zu meinem Kinde'"
„Sie haben mich heute morgen wiedererkannt,
wie ich Sie?" fragte er leiser.
Sie nickte.
Es durchfuhr ihn seltsam. Das Fest in Holden-
berg, dessen Königin dieses verlassene Weib einst ge-
wesen als die Schönste und Begehrteste unter allen,
kam ihm in Erinnerung.
„Warum wollten Sie sterben?" fragte er mit be-
wegter Stimme. „Haben Sie denn kein Gottver-
trauen mehr, an dem Sie einst so reich waren?"
„Nein."
„Kein Vertrauen zu Menschen?"
Das Kenncrauge des Arztes sah, daß eine schwere
Krankheit im Anzuge sei, er fühlte, daß ihr Puls in
immer kürzeren Schlägen jagte.
„Beruhigt es Sie nicht, einen Freund um sich zu
wissen?" fuhr er eindringlich fort. „Einen Freund,
wie Sie ihn ergebener nicht finden können?"
Sie antwortete nicht mehr.
Ströme und Meere rauschten in ihren Ohren zu-
sammen. lieber einer schwarzen Moorfläche begannen
tausend Irrlichter hernmzutanzen und drehten sich wie
Staubkörner im Winde, aber mitten im tollsten
Wirbel fühlte Marie Antonie sich am Schopfe er-
faßt und rückwärts niedergerisscn. Sie glaubte sich
schreien zu hören — dann sank sie und sank.-
Als sie erwachte, war es lichter Tag. Durch alle
Vorhangritzen sandte er sein Licht in ein fremdes,
hohes Zimmer, das sic nie gesehen, über einen Sessel,
darin eine fremde Franengestalt, an weißen Häubchen
nähend, saß — bis zn ihr selbst. Auf ihrem Hand-
rücken fühlte sie die belebende Sonnenwärme mit
einem Wonnegefühl des allerseligsten Traumes.
Gewiß, sie träumte mit offenen Augen. Aber da
tickte doch eine Uhr, und da zwitscherte doch eine
Meise vor dein Fenster, und da draußen vor der
Thür hörte man doch Schritte.
Ihr ward so wundersam, als sei sie körperlos,
so frei, als sei sie aus Nacht und Grauen in Glanz-
fülle getreten. Sie wollte dankbar die Hände falten,
aber ihre Arme waren matt, wie gebrochen.
Bei dem leisen Geräusch sah die Wärterin von
ihrer Arbeit auf.
„Wo bin ich?" lispelte Marie Antonie.
Tie Pflegerin betrachtete sie forschend, dann nickte
sie freundlich. „Gut aufgehoben, sehr gut! Wollen
Sie gar nicht darüber Nachdenken. Ruhe ist jetzt
alles, was Sie brauchen." Sie reichte ihr zu trinken
und strich ihr die dunklen Haare aus der Stirn.
Marie Antonie lächelte dankbar. Nachdenken
konnte sie so wenig, als die Hand bewegen.
„Bin ich krank?"
„Gewesen, jetzt nicht mehr. Aber sprechen dürfen
Sie gar nicht, das ist streng verboten. Versuchen
Sie nur wieder einzuschlafen. Ganz ruhig bleiben —
ganz ruhig —"
Durch den sanften Tonfall eingeschläfert, sanken
wirklich Marie AntonienS Augenlider willig wieder
zu. Und dann hatte sie einen wunderlichen Traum.
Sie hörte Schritte ihrem Bett näher kommen und
eine Stimme sprechen, ihr wohlbekannt und dennoch
rätselhaft. Alsdann fühlte sie einen Scbatten zwi-
schen sich und den Sonnenglanz treten, den Schatten
einer Gestalt, die sich zn ihr neigte. Nun ward auch
ihre Hand erfaßt. Sie lächelte im Schlaf bei dieser
Berührung und lächelte fort, bis die Tramügestalt
von ihrem Lager schritt. Ta fuhr sie zusammen
und seufzte laut. . . .
Am Abend, als sie mühsam das Haupt zur Seite
gewandt, sah sie einen Mann eintretcn.
„Der Arzt," sagte die Wärterin beruhigend.
„Doktor Brenner. Er kommt zweimal täglich, Sic
zn sehen."
„Mich zu sehen —" flüsterte Marie Antonie ver-
ständnislos. Der Kopf war ihr wie leer.
In der Folge teilte sie ihre Zeit ein nach den
Besuchen dieses Mannes — morgens, abends. Da-
zwischen kam ihr immer wieder die Erinnerung an
das Traumbild jenes anderen zurück, der auch ihre
Hand erfaßt und in der seinen gehalten hatte.
Noch etwas anderes ward ihr zur Uhr. Ein
alltäglich sich erneuernder Strauß frischer Schnee- >

glöckchen, den die Wärterin gegen Mittag regelmäßig
in ihre Hände legte.
Mit tiefster Freude, im wachsenden Wonnegefühl
der Genesung drückte Marie Antonie die weißen
Blumen an ihre Lippen. „Jst's denn schon Früh-
ling draußen?"
„Freilich. Tie Veilchen kommen auch bald. Morgen
dürfen Sie ein Stündchen ausstchen. Nächstens können
Sie auch an einem schönen, warmen Tage spazieren
fahren, sagt der Arzt. Ich werde den bequemsten
Wagen für uns aussnchen."
„Ich bitte Sic - -" stammelte Marie Antonic
trotz aller Vorfreude, den Lenzesdnft der Natur
wieder atmen zn sollen, erschreckt. „Ich bin arm."
„Wir wollen uns gar keine Gedanken darüber
machen," wiederholte die Wärterin unermüdlich auf
alle Fragen und Beteuerungen. „Wir wollen gar
nicht darüber nachdenken. Es geht alles, wie es
gehen soll." —
O, die Freude, als sie znm erstenmal wieder ans
ihren Füßen stand!
Ein weiches Morgcnkleid lag schon für sie bereit.
Cie betrachtete es kopfschüttelnd. Wollte denn nichts
sie ans der Täuschung reißen, ein schönes Märchen
zu erleben?
Als sie dann im Sessel am offenen Fenster saß im
Sonnenbad, das ihrem Körper wachsende Kraft und
Lebensglut znführte, war's ihr, als sei hinter ihr ein
Fegefeuer versunken, aus dem sie durch ein Wunder
gerettet worden. Ihr schauderte jetzt vor dem Wege,
den sie hatte gehen wollen an jenem Abend.
lind da siel's ihr plötzlich wie Schuppen von den
Augen. Kein anderer als Bruno Geisler konnte ihr
Wohlthäter geworden sein, er, der sie znm Leben
zurückgeführt, dessen Stimme tröstend in das Erlöschen
ihrer Sinne tönte.
Und ihn hatte sie schmählich verkannt, tief unter-
feinem Wert gewürdigt!
Sie wagte nicht, nach ihm zn fragen. Aber ge-
rade deshalb trat er von nun an in den Mittel-
punkt ihrer Gedanken, als der einzige, welcher sie in
ihres Daseins Glanz und in ihrer tiefsten Erniedrigung
gesehen.
Immer häufiger umkreisten die Bilder der Ver-
gangenheit, darin seine Person verflochten war, Marie
Antoniens stille Stnndcn, spannen sie endlich ganz
und gar mit sehnsuchtszarten Zanbcrfäden ein.
Was war's, das ihr bei solchen Erinnerungen
das Blut schneller durch die 'Adern trieb? War's der
Frühlingsodem der Natnr, der genesende Menschen
zu neuer Daseinsfrende erweckt? War's die Stimme
der Scham um das, was sie schuldlos erlitten?"
Sic ertrug endlich die Zweifel nicht mehr. Zögernd
zog sie die Glocke.
„Ich weiß nicht," fragte sie zaghaft die Pflegerin,
„ob Ihnen ein Arzt — Namens Geisler bekannt ist?"
„O ja!" sagte diese lächelnd. „Sehr gut. Der
Herr Professor ist um diese Zeit aber nie zu Hause."
„Zn Hanse? Bin ich denn in seinem Hanse?"
fragte Marie Antonie so verwirrt, daß sie keine
Worte mehr fand.
„Er wohnt hier im Hause meiner Schwester.
Damals hat er Sie zu ihr in Privatpflege gebracht.
Sie hatte just zwei Zimmer im Parterre zu ver-
mieten. Ich bin Krankenpflegerin von Beruf, und
so übergab er Sie mir. Er hätte Sie ja auch ins
Krankenhaus schaffen lassen können, aber er wollte
es nicht. Und bester war's so. Alle hatten ihren
Vorteil davon. Es ist wahrhaftig eine Freude, Ihre
klareu Augen auzusehcn. Machen Eie sich nur keine
Gedanken, Fran Bristol. Es werden ja nicht alle
Leute mit einem goldenen Löffel im Munde geboren,
lind er giebt's gern, was er für Sie giebt."
Marie Antonie wußte nicht, wohin sie bei diesen
Erläuterungen blicken sollte. Sie hingen sich wie
bleierne Gewichte an ihre frisch anfsprossende Lebens-
lust. „Wenn —" flüsterte sie mit unsicherem Tone, die
Finger ineinanderpressend — „wenn der Herr Pro-
fessor — Zeit dazu hat — möchte ich ihn sprechen."
„Ich will's ausrichten, sobald er kommt."
„Ja und — und hat sonst niemand nach mir-
gefragt? Vielleicht ein Mädchen Namens Tine
Prcmpel?"
„Nein," sagte Fran Gersten kopWhüttelnd. „Es
hätte ihr auch nichts genutzt. Der Herr Professor
läßt nicht mit sich spaßen. „Die Kranke bleibt allein,
niemand wird zu ihr gelassen!" hatte er befohlen.
Ta könnten hundert Tine Prcmpels kommen. Soll
ich ihn auch danach fragen?"
„Nein, nein! Ich meinte nur —"
Sie ging verwirrt zum Fenster zurück . . .
Am Spätnachmittag, da sie wieder am Fenster
saß, das Spiel der Winde in den knospenden Zweigen
betrachtend, pochte es an ihre Thür. Sie fuhr zu-
sammen und rief so leise „Herein!", daß kein Ohr im
Zimmer den Schall hätte ausfangen können.
Die Thür that sich aus, Geisler trat über die
Schwelle.

'Als sie ihn erkannte, da wußte sie auch, wer sich
damals zuerst über ihr Antlitz geneigt und ihre Hand
erfaßt hatte.
Ein leiser zitternder Aufschrei, darin sich alles
zusammendrängte, was in Scham und Schmerz, in
Dank und Freude ihr Herz bewegte, drang über ihre
Lippen.
Sie sprang ans. Er stand schon neben ihr und
nahm lächelnd ihre Rechte.
„Was ist denn, daß Sie so an mir erschrecken?
Ich meinte, es sei Ihr Wunsch?"
„Ja, es ist mein Wunsch —" sie stieß es hastig
hervor in einer Erregung, die sie fast zn seinen Füßen
niedergerissen hätte. „Ich mußte dem Retter — dem
Helfer —"
„Ich bitte Sie," fiel er ihr ernst ins Wort, „vor
allen Dingen Ihre Kräfte nicht zu überschätzen. Wenn
Sie fortfahren, es zu thnn, muß ich mich sofort
znrückziehen."
„Ich will es nicht -- gewiß nicht!" Sie stam-
melte es zitternd und mit verschleiertem Blick. „Nnr
danken —"
„Wollen wir nicht lieber miteinander plaudern
wie gute alte Freunde?" fragte er scherzend. „Sie
gestatten mir doch, ein Stündchen zu verweilen?"
In plötzlicher Eingebung umschloß sie seine Hand
mit ihren beiden Händen und drückte sie stnmm,
völlig ausgehend im Gefühlssturm, der sie beherrschte.
„Ich weiß, ich weiß," sagte er weich. „Davon
kein Wort mehr. Was ich für Sie thnn konnte und
that, war mir Herzensbedürfnis. Vergessen wir es -
ich bitte darum!"
Er führte sic zu ihrem Testet iu der Fensternische
zurück und nahm ihr gegenüber Platz.
„Ich habe den Auftrag, Sie von meinem Onkel
herzlich zu grüßen. Er wird Sie nächstens persönlich
zu Ihrer Genesung beglückwünschen."
„O nein!" rief sie, aufs tiefste erschreckt. „Ich
kann nicht — ich kann nicht nach allem, ivas ge-
schehen —"
„Das Geschehene ist tot," sagte er nachdrücklich.
„Mir ist, als müßten Sie selbst den Wunsch haben,
sich endgültig über die Vergangenheit zn erheben."
„Ja, ich wollte es, aber es ging nicht," flüsterte
sie mit gesenkter Stirn. „Ich habe mir die Erinnerung
mit der Wurzel aus dem Herzen reißen wollen —
darüber wäre ich zur Selbstmörderin geworden —
ohne Sie."
Ihre Brust atmete schneller. Dieser raschere
Pulsschlag aber gab ihr Gedanken und Sprache
zurück.
„Damals," fuhr sic leise fort, „damals, als ich
von ihm ging, der meine Liebe zum Deckschild nahm
gegen eine ihm lästige Leidenschaft — von ihm, der
mein Herz an sich riß, um es mit Gleichgültigkeit
wieder von sich zn werfen — von ihm, dem lieb-
losen Vater meines armen Kindes — — damals
glaubte ich, mein mißhandeltes Herz sei todkrank." In
dieser Hoffnung habe ich gegen mich selbst gewütet
in schlaflosen Nächten und ruhelosen Tagen. Ich
wollte die Krankheit fördern und znm Abschluß bringen.
Was fragte ich nach den kargen Mitteln, die ich be-
saß. Ich glaubte sie ja nur für eine kurz bemessene
Lebenszeit zn bedürfen. An 'Not und Entbehrung
dachte ich nicht. Als ich den Rest meines Geldes durch
böse Menschen verlor, war ich zu stolz, mein Recht
nachträglich in Anspruch zu nehmen. — Glauben Sie
mir," fuhr sie erglühend fort, „in allem Elend, das
ich durchmachte, war dieser Stolz mein Stab. Und
dann, dann wuchs mir das Elend über den Kopf,
wie Wellen schlugen Not und Schmutz über mir zu-
sammen. Und dann kam eine Stunde, wo ich, von
Verzweiflung gepackt, mit meinem Jammer vor ihn
hintreten wollte: „Das hast du ans mir gemacht!" Aber
da hatte ich kein Recht mehr einznsordern. Es war
verjährt. Ich selbst hatte es verfallen lassen. Nur-
bitten konnre ich, ach, nur bitten!"
Sie war aufgesprungen. Ihre Wimpern zuckten,
ihre Wangen glühten.
„Nie! Nie! Eher sterben!"
Geisler hatte mit gespannter Aufmerksamkeit
schweigend zugehört. „Meines Onkels Sorge um
Sie," sagte er, „hätte wohl ein wenig Vertrauen
verdient."
„Ja," versetzte sie tief anfatmend, „das hätte er!
Ich hätte die Verbindung mit ihm nicht abschneiden
sollen. Zuerst war's Stolz, dann Scham. Ich will
ihn bitten, daß er mir den Irrtum verzeiht. Was
konnte ich mehr thnn, als ihn mit dem Leben be-
zahlen?"
Er nickte ernst. „Halten Sie sich überzeugt, daß
der, der Sie kränkte, seiner Strafe nicht entgangen
ist. Nehmen Sic als sicher an, daß Sic nicht allein
gelitten haben."
Sie schüttelte das Haupt. „Ich will nicht mich,
noch Sie darüber täuschen, noch sonst jemand: Mein
Gefühl für Maximilian Trachberg ist tot. Mag er
glücklich oder unglücklich sein, gewisseusfrei oder be-
 
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