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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 37.1902

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Heft 18
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Das Buch für Alle.

M l ij.

mals von ihm reden sollte. Es beschmutzte ihn
nnd er wollte den Fleck nicht sehen.
Was er von ihr verlangt hatte, war im Grunde,
das; sie ihren Vater verleugne. Aber dafür hatte
er versprochen — so hatte es ihr Lydia gesagt -
wenn der Vater wieder in Freiheit sei, für ihn
sorgen zu wolle», llud so sollte sie, indem sie den
Vater verleugnete, gleichzeitig damit für ihn ein
kindlich gutes Werk thun. Und dennoch, dennoch!
— sie hatte sich damit von dem Vater losgesagt.
Wenn er wieder frei war, wenn er nach dem letzten
Wesen verlangte, das ihm geblieben war - seinem
Kind? Dian riß ihn von ihr, und statt des Herzens
seines Kindes bekam er Geld.
Sie verscheuchte schnell diese häßlichen Gedanken,
sie belog sich selbst, sic hing Wahnbildern nach, daß
es noch lange Zeit hin sei, bis er frei wurde, uud
das vieles in dieser Zeit anders werden könne.
Was sollte anders werden? Warum war es so ge-
kommen, daß ihr davon das Herz zerschnitten wurde?
Früher war sie nur unglücklich gewesen - jetzt hatte
sie auch ihren Frieden verloren. Gab es ohne Frieden
ein Glück? Und wenn es ihr auch mit solchen
Gluten durch die dunkle Seele leuchtete, wie dort
vor ihr die roten Flammen durch die schwarze
Nacht — warum fand sie nicht den Mut, seinem
Wunsche entgegenzutrcten — wenigstens einmal den
Namen ihres Vaters vor ihm über die Lippen zu
bringen? Wie oft hatte sie den Mut dazu schon
finden wollen? Und immer erstarb er ihr wieder.
Die Scham verschloß ihr den Mund. Und nicht
die Scham allein. Auch die Furcht, ihn zornig zu
machen.
Sie hatte sich gegen ihn gewehrt. Noch in jenem
Augenblick, wo er sie als die Seine mit seinen
Armen umfing. Aber ihre Kraft verließ sie, er ver-
schloß ihr den Mund nut seinen Küssen. Es war
zu spät. Nnu war sie in dem Strudel, in dem sie
hcrnmwirbelte, matt und müde geworden. Nun
kämpfte sie nicht mehr dagegen an. Nnu mochte
das Schiff ihres Lebens auf dem dunklen Strome,
von dem sie nicht wußte, wohin er es noch führen
würde, weiter treiben. Wenn es zerschellte und mit
ihr unterging, so war sie erlöst, und ihr letzter
Augenblick würde ihr glücklichster sein, denn, was
auch dann an Schmerzen hinter ihr lag, das eine
konnte ihr keine Macht der Erde rauben: er hatte
sie geliebt!
„Stascha, an was denkst du?" flüsterte er ihr, sie
an sich ziehend, zärtlich ins Ohr.
„An unser Unglück!" wollte sie schreien, aber
stumm barg sie ihren Kopf an seiner Brust.
Die Rundfahrt war beendet. Vom Ufer dröhnten
Böllerschüsse in die Nacht, die Boote leerten sich,
und die heraussteigcnde Menge verteilte sich in die
verschiedenen Restaurants. Auch die Liebenden
schieden — nur noch für eine kurze Zeit. Bald
würden sie dauernd verbunden sein!
Acht Tage später fand die Hochzeit statt. An
dem einfachen Hochzeitsmahle nahmen nur wenige
Personen teil, außer Lydia nur noch zwei ehemalige
Corpsbrüder Georgs, die zu dem Zwecke von Berlin
gekommen waren. Von feiten der Brant war nie-
mand erschienen. Verwandte halte sie keine, und
die Fran Gräfin, die „mütterliche Freundin", unter
deren Schutze sie sich bisher befunden hatte, vertrat
die Stelle der Eltern. Daß Georg ein mittelloses
Mädchen, das ihm nicht einmal einflußreiche Be-
ziehungen mitbrachte, ja, deren Familie man nicht
einmal kannte, zu seiner Frau nahm, war im Kreise
der Berliner Verwandtschaft natürlich schon zur
Geuiige erörtert worden, aber schließlich stand man
ihm zu fern — seine Eltern waren ebenfalls schon
gestorben — um ihm darüber irgendwelche Vor-
stellungen zu machen. Mochte er thun, was er für
gut hielt.
In dem grauen Reisekleide, das Stascha bei
dem Mahle bereits trug, sah sie wunderhübsch,
wenn auch noch blässer aus, als sonst. Was Georg
betraf, so machte er eine sehr stattliche Figur, und
das Glück strahlte ihm aus deu Augen. Er konnte
es sichtlich nicht erwarten, bis das Mahl zu Ende
war, um mit seiner jungen Fran in das Boot zu
steigen, das sie zum Dampfer bringen sollte. Die
drei Wochen, die er noch Urlaub hatte, wollte er
mit Stascha in Paris verbringen.
Endlich stand man ans, der Champagner hatte
seine Wirkung gethan, es gab einen fröhlichen Ab-
schied. Lydias Gesicht strahlte förmlich triumphierend,
aber ein Zug lag bei den Danksagungen der Ver-
mählten um ihren Mund, der minder harmlosen
und weniger mit sich selbst beschäftigten Leuten als
Georg und Stascha zu denken gegeben hätte.
Und dann waren sie aus dem Dampfer, der sie
nach Hamburg bringen sollte, und saßen, der übrigen
Passagiere wegen, ziemlich wortkarg Hand in Hand
im Salon.

Nun war es wirklich so gekommen, daß sie seine
Fran war. Noch bis gestern, noch bis heute hatte
sie gefürchtet, daß irgend ein Ereignis eintretcn
würde, das sie von ihm riß und den Traum zer-
störte. Aber nun saß sie hier neben ihm im Salon
des Schiffes, nnd sie reisten zusammen nach Paris.
Sie fühlte den Druck seiner Hand. Wenn nicht die
fremden Leute nm sie gewesen wären, sie hätte sich
demütig nieder-gebeugt nnd seine Hand geküßt.
Diese Hand mußte sie nun fortan schützen, mußte
sie aufrecht halten, an seine Hand mußte sie sich
klammern, wenn ihr einmal der Boden unter den
Füßen schwanken würde. Und sie erwiderte ihren
Druck so fest, als brauchte sie schon jetzt eine Stütze
an ihr. Er empfand es nnd hielt es für ihre nun
ihm rückhaltlos sich hingebendc Liebe. Noch bis
heute, bis znm Hochzeitstage hatte sie eine gewisse
Scheu vor ihm bewahrt. Manchmal wollte er sie
fragen, ob sie Furcht vor ihm habe. Aber das war
es nicht, denn ihre Augen sagten ihm, daß sie ihm
grenzenlos vertraue. Lydia hatte recht — es war
die Vergangenheit, die noch ans ihr lag. Aber
fortan würde das Vergangene keine Macht mehr
über sie haben und, von dem Bann erlöst, würde
sie der seligen Gegenwart, der seligen Zukunst
endlich getrost ins Antlitz sehen.
Secklte; llcipllel.
Ueber dem herrlichen Paris lag ein sonniger
Septemberhimmel. Als Stascha durch die breiten,
prächtigen, dicht belebten nnd mit grünbelanbten
Bäumen geschmückten Straßen fuhr, fühlte sie ihr
Herz warm nnd heiter werden. Alles lachte sic
darin an.
„Wie hübsch das ist!" sagte sie.
Znm erstenmal sah er ein sorgloses Lächeln über
ihr Gesicht schweben. Sie konnte sich an dem
reizenden Straßenbilde, an den Plätzen, Gärten,
Palästen nnd Denkmälern, an denen der Wagen
vorüberfnhr, nicht satt sehen.
„Freut's dich jetzt, meine Fran zu sein?" neckte
er sie.
Und das sonnige Lächeln, der Abglanz der Sonne,
der milden warmen Sonne, in der diese Stadt wie
gebadet vor ihr lag, schwand nicht mehr von ihrem
Gesicht.
„Du bist so gut," flüsterte sie glücklich.
Drei Wochen verbrachten sie in der Seinestadt
unter den Millionen Menschen ganz allein mit-
einander, nun eins geworden in ihrer Liebe. Nur
manchmal, nur selten noch zog der alte Schatten
über Staschas Stirn, nm gleich bei Georgs nächstem
zärtlichen Wort wieder zu verschwinden, wie an dem
ungetrübten blauen Himmel über ihnen das kleine
weiße Wölkchen. Nun hatte ihn seine Hoffnung
nicht betrogen. Nun konnte sie, in seiner Liebe, an
ihr Glück auch glauben.
Die Tage vergingen, ohne daß sie sie zählten,
ohne daß sie es merkten — bis der Tag da war,
an dem sie heimwärts mußten
„Wir wollen, mein geliebtes Herz, nicht trauern,
wir wollen uns freuen," sprach er zu ihr, als sie
am Morgen der Abreise am Hotelfenster standen
und einen letzten Blick ans die Stadt zu ihren
Füßen warfen, „nun bring' ich dich in meine Heimat.
Auch deine Heimat wird sie nnn sein."
In ihren 'Augen standen Thränen.
„Stascha, warum wciust du?"
Das alte Bangen kam plötzlich wieder über sie. Hier
war sie glücklich gewesen, so unsagbar glücklich, los-
gelöst von allen dunklen Gewalten, die bisher ihr
Leben beeinflußt hatten. Nnn wollten sie diese Stätte
verlassen. Würde das Glück mit ihr ziehen auch
an den neuen Ort, in ihre künftige Heimat?
An einem trüben Regentage kam vor dem alten,
hohen Giebelhanse, das in der Stadt Hannover
auf dem Marktplatz stand, eine hochbeladcne Gepäck-
droschke angerollt. Die gebräunte massive Eichen-
thür mit den blitzenden altmodischen Messingklopfern,
die sonst immer fest geschlossen war, stand heute
weit geöffnet, in dem geräumigen Hausflur, in dem
alles weiß anssah - die Manern, die breiten Fuß-
bodenplatten, das gefirnißte verschnörkelte Treppen-
geländer und die ebenfalls sehr breiten, wenn auch
schon etwas ausgetretenen Steinstufen — harrten
zwei Personen der Ankömmlinge, eine männliche
und eine weibliche. Es war das Ehepaar Bröckel.
Seit vierzig Jahren gehörte es zu diesem Hause.
Bröckel, ein würdig aussehender Mann mit glatt-
rasiertem Gesicht, hatte zu Ehren des Tages seine
Livree angelegt, in der Hand hielt er einen seit ,
einer Viertelstunde bereits anfgespannten Regen- !
schirm, der durch seine Größe und seine solide Bau-
art gleichfalls verriet, daß er eiucr Zeit entstammte, '
in welcher der moderne luftige Firlefanz noch nicht
zur Geltung gekommen war. Was Fran Bröckel

anbetraf, so gab ihr Aenßeres dem würdigen Aus-
sehen ihres Gatten nichts nach. Auch sie war in
Schwarz, nur eine breite weiße Schürze hatte sie
nmgebnnden und um den Hals trug sie eine Spitzen-
krause, die eine ansehnliche Bernsteinbrosche zusammen-
hielt, mochte auch der moderne Geschmack gleichfalls
darüber hinweggegangen sein. Das noch immer-
dunkle Haar trag sie in zierlichen, an die Stirn ge-
klebten Zäckchen, die heute ganz besonders fest und
ordentlich saßen, weil Fran Bröckel Zuckerwasscr
dazu genommen hatte. Fran Bröckel stand, die
Arme verschränkt, in der Mitte des Hausflurs,
während eben hinter ihr aus dem letzten Treppen-
absatz noch zwei andere weibliche Gesichter auftauchten,
die der Köchin und der neu engagierten Zofe ge-
hörten. Die Zofe war ein Ding von zwanzig
Jahren. Seit Menschengedenken hatte es in dem
alten ehrwürdigen Hmffe keine zwanzigjährigen
weiblichen Dienstboten gegeben — Zofen überhaupt
nicht. Aber so war cs der Befehl des gnädigen
Herrn gewesen: seine junge Fran sollte auch eine
junge Zofe haben. Ja, er hatte dieses Fränlein
sogar selbst nach eigener Auswahl in dem Ver-
mietungsburean engagiert.
Es muß gesagt sein, daß diese Fränlein Elise
nicht der einzige Grund war, weshalb Herr und
Frau Bröckel der Ankunft der neuen Herrin mit
einer gewissen Spannung — nm nicht den vielleicht
dafür noch treffenderen Ausdruck „Mißtrauen" zu
gebrauchen — entgegensahen. Schon daß der gnädige
Herr nicht in Hannover seine Hochzeit gefeiert hatte,
weckte wenig tröstliche Erwartungen. Außerdem
aber sollte „sie" sogar noch „eine Polnische" sein
Es war ein Unglück, daß die alten Herrschaften
nicht mehr lebten, bei ihren Lebzeiten wäre eine
solche Schwiegertochter nimmermehr ins Haus ge-
kommen.
„Sie sind's," sagte Frau Bröckel, als der Wagen
herangerollt kam, nnd sie den wohlbekannten schwarzen
Lederkoffer auf dem Verdecke erblickte.
Der Wagen hielt, nnd Georg sprang heraus.
Bröckel, der jetzt mit dem Regenschirm an den Schlag
herangetreten war, bekam von ihm einen freund-
lichen Gruß. Dann wandte Georg sich in den
Wagen zurück und hob eine weibliche Gestalt heraus
— die neue gnädige Frau.
Frau Bröckel machte vor ihr einen steifen Knicks,
Stascha streckte ihr die Hand entgegen, nicht rasch
nnd auch nicht mit Herablassung, wie es sonst vor-
nehme Damen thun, sondern mit einem freundlichen
Blick, der um Frau Bröckels Wohlwollen zu werben
schien. Auch die Köchin und Elise bekamen von ihr
eine Hand. Dann, während Byöckel, von diesen
beiden unterstützt, die Gepäckangelegenhcit ordnete,
führte Georg seine junge Frau die Treppe hinauf.
Von der Treppe ans sab man durch breite Fenster
in einen großen, mit Rasen und in der Mitte mit
einer alten Rüster geschmückten Hof hinaus, der fast
eine Art von Garten war, und gleich auf dem ersten
Absatz der Treppe stand eine alte Mahagoniuhr,
die einer der früheren Herren des Hauses einmal
aus England mitgebracht hatte und die eben, den
Ton der Glocken von der Londoner Panlskirche
nachahmend, den Stundenschlag ertönen ließ.
Seltsam klang er von den weiten lichten Wänden
zurück.
Im ersten Stock hingen über der Thür, welche
Frau Bröckel jetzt öffnete, prachtvolle Guirlanden;
man trat in ein großes Zimmer mit dunklen alten
Möbeln und einem das ganze Parkett bedeckenden
gewirkten Teppich, den, wie Stascha einmal später-
erfuhr, ein Fränlein v. Elze mit eigener Hand ver-
fertigt hatte, wozu sie über dreißig Jahre ihres
Lebens gebraucht. In dem in die Mauer mit
schrägen Wänden eingelassenen Ofen, einer Art
Kamin, dessen Kacheln ans grünem Untergrund mit
weißen Reliefs bestanden, summte ein behagliches
Feuer, und auf dem einladend gedeckten Tisch, auf
welchem, außer der in der Mitte des Zimmers
hängenden seltsam geformten Gaskrone, in schweren
silbernen vielarmigen Leuchtern noch eine Anzahl
Kerzen brannten, brodelte die Theemaschine.
Fran Bröckel fragte, nachdem sie der Fran
Baronin Hnt nnd Mantel abgenommen hatte, ob
die Herrschaften vielleicht erst Toilette machen wollten,
auch dazu sei alles bereit, nnd ob sie der Fran
Baronin das Mädchen schicken solle, und was für
Befehle der Herr Baron und die Fran Baronin
sonst noch hätten.
Georg lachte. „Bekümmern Sie sich um uns
nicht mehr, Fran Bröckel," sagte er, „ich danke
Ihnen, beim Thee bedienen wir uns selbst!"-
Noch an demselben Abend — die Herrschaft
hatte sich sehr früh zur Ruhe zurückgezogen -- fand
; in der Wohnung des Hausverwalterpaares eine
interessante Versammlung statt, an der außer
Bröckels, sowie der Köchin Karoline in Anbetracht
der Wichtigkeit des zur Rede stehenden Themas
 
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