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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 37.1902

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Heft 19
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https://doi.org/10.11588/diglit.44085#0453
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452

Das Buch für Alle.

Hrst IS.

nicht mehr lebte, so war es nicht die Wahrheit und
er war belogen worden. Lydia hatte ihn belogen! —
„Stascha, was ist dir?" fragte er besorgt.
„Nichts! Nichts!" stammelte sie.
„Ich will Licht anzünden!"
„Nein, laß!"
Sie hielt ihn fest. Das Licht hätte sie verraten.
Es hätte ihm ihr leichenblasses Gesicht gezeigt. Sie
beruhigte ihn, und ihre Stimme klang durch die
Dunkelheit wieder so unbefangen wie zuvor. Wenn
sie erfahren wollte, was Lydia ihn: damals gesagt,
so mußte sie ihre ganze Kraft zusammennehmen, auch
die Kraft, ihn in diesem Augenblick zn täuschen.
„Sprich," begann sie, den Kopf an feiner Brust,
„was hat dir Lydia von meinem Vater erzählt?"
Ihre Frage konnte ihn nicht in Verwnndernng
fetzen. Vielleicht dachte und fürchtete sie in ihrer
kindlichen Liebe, daß Lydia über ihren Vater ein
zn herbes Urteil gefällt habe. Aber gerade in diesem
Punkte konnte er ihr ja jede Sorge nehmen.
Er wiederholte ihr, was Lydia ihm berichtet hatte,
die ganze Lüge wiederholte er ihr.
„Wir haben uns eine Zeitlang von ihr ein
falsches Bild gemacht," so schloß er. „Sie ist ein
eigentümlicher Charakter, aber im Grunde ihres
Herzens gut. Sie hat es an dir gezeigt. Und wir
sind undankbar gegen sie, wir haben uns seit unserer
Hochzeit noch nicht nm sie bekümmert, wissen nicht
einmal, wie es ihr geht und wo sie sich aufhält. Das
müssen nur gleich in den nächsten Tagen nachholen.
— Die Erinnerung an deinen Vater hat dich aber
aufgeregt. Verzeih mir, Lydia hat es mir im voraus
gesagt. Ich wollte ja nur, daß du nicht glauben
sollst, ich denke übel von ihm. Wir wollen sein Ge-
dächtnis fortan zusammen treu und in Ehren be-
wahren."
Er küßte sie innig und zärtlich. Sie ließ cs ge-
schehen, aber ihre Lippen erwiderten seinen Druck nicht
mehr.
Nun stand er auf und zündete die Lampe, die
ein roter Seidenschirm bedeckte, an. Er sah wohl
jetzt, wie blaß sie war, aber er schob es ans die
Erinnerung an den Vater.
„Bleib da," sagte er, sie voll Liebe umfangend,
„ich will allein gehen."
Nun verstand sie ihn. Er meinte, das Grab
seines Vaters könne ihren Schmerz von neuem
weckeu.
Er ging — und sie war allein.
Mechanisch ging sie ans Fenster und schob die
Vorhänge zurück. Soeben trat er aus dem Hause,
deu Kranz hielt er in der Hand, jetzt winkte er einen
Wagen herbei. Dann stieg er ein, und der Wagen
rollte mit ihm fort. Es war ihr, als wäre er auf
ein Schiff gestiegen, und sie hätte er am Ufer zurück-
gelassen, und nun käme er niemals wieder.
Es schneite. Auf dem Platze lag eine dicke,
weiße, weiche Decke, welche das Rasseln des Wagens
und das übrige Geräusch der Straße dämpfte. Auch
im Hause war es still wie immer. Nur der sonore,
Helle Schlag der Treppenuhr, den man in jedem
Zimmer hörte, unterbrach für einen Augenblick das
tiefe Schweigen. Die rote Lampe erleuchtete deu
großen Raum nur dürftig. Bloß auf dem sammtenen
Thürvorhang zeichnete sie einen Hellen Fleck ab.
Stascha saß zusammengesunken in einer Ecke.
Jene körperliche Mattigkeit von früher hatte sie
wieder befallen, aber sie durste ihr nicht nachgeben,
sie hatte nachzudenken und zu handeln.
Was Lydia an ihr gethan hatte, war ihr nun
fast klar, wenn sie auch noch manches davon nicht
ganz begriff. Aber darauf kau: es nicht an. Es
kau: darauf an, daß er nicht wußte, daß die Frau,
die er genommen hatte, die Tochter eines Zucht-
häuslers war.
Was sollte sie thun?
Die Wahrheit ihm sagen? Die Wahrheit, aus der
er ja auch ersehen mußte, daß sie au dem Betrüge
keine Schuld hatte! Und dann — was dann?
Dann jagte er sie von sich oder, um seine Schande
nicht laut werden zu lassen, er behielt sie bei sich.
Aber wie sollten sie noch miteinander leben?
Sollte sie schweigen? Dann wurde sie wirklich
an ihm schuldig, dann wurde sie an ihm zur Be-
trügerin, abgesehen davon, daß Tag um Tag, Stunde
nm Stunde die Wahrheit von anderer Seite an ihn
herantreten konnte, vielleicht durch Lydia selbst.
Sie dachte an die Schneedecke, die jetzt draußen
auf dem Lande lag und die einem großen Leichentuche
glich. Still unter dieser Decke liegen — endlich
erlöst! — Erlöst! Sie lächelte wie irre vor sich
hin. So nahe war die Antwort. Ach, sie tauchte
nicht zum erstenmal vor ihr im Leben auf. Wenn
es ein Zufall wäre, der ihrer Daseinsgual ein Ende
machte! Aber solch ein Zufall fand sich nicht. Ihre
Lage erforderte gebieterisch von ihr einen Entschluß.
Bis Georg zurückkam, mußte ein solcher von ihr
gefaßt sein. Was also sollte sie thun?

Endlich erhob sie sich. Sie begab sich in ihr
Schlafzimmer, warf dort einen Mantel über und
setzte ihr Kapothütchen auf mit dem Schleier. Dann
nahm sie eine Handtasche, verpackte hastig etwas
Wäsche und die notwendigsten Toilettenartikel darin
und sann nach, was sie noch weiter mitznnehmen
hatte. Sie würde Geld nötig haben, denn das
wenige, das sie in ihrem Portemonnaie hatte, würde
bald zu Ende gehen — und außerdem gehörte selbst
dieses wenige nicht einmal ihr, sondern ihm
Welche seltsamen nüchternen Berechnungen ihr
jetzt in den Sinn kamen. Aber das Perlenhalsband,
das er ihr geschenkt hatte, durfte sie mitnehmen!
Nein, auch das nicht. Es wäre wie ein Diebstahl
an ihm gewesen.
Fliehen! Auch damals hatte sie vor ihm fliehen
wollen. Warum hatte er sie festgehalten? Es war
sein Unglück gewesen. Ach, sie dachte ja nicht mehr
an sich selbst, sie dachte ja nur noch an ihn. Wenn
er zurückkommen, wenn er sie nicht mehr finden
würde. Er hatte sie so sehr geliebt!
Fliehen! Ihr ganzes Leben war ein ewiges
Auf-der-Flucht-sein gewesen, von dem Tage an, wo
des Vaters Gut von den Gläubigern verkauft, und
sie von der heimatlichen Scholle vertrieben wurden.
Sie hatte es ja immer gefühlt, mitten in der Selig-
keit, die sie mit Georg genossen, daß darin kein
Bleiben für sie war, und daß der Tag kommen
würde, wo ihr Schicksal sie wieder daraus auf-
peitschen und wieder weiterjagen würde. Wohin?
Ja — wohin? Welches Ziel war ihr noch be-
stimmt? Draußen lag es — in der kalten schwarzen
Winteruacht, die auf sie wartete.
Sie wollte ein paar kurze Zeilen an ihn hinter-
lassen. Aber was, was sollte sie ihm schreiben?
Sie sand die rechten Worte nicht — und außerdem,
wenn er so schnell ihre Flucht erfuhr, so war zu
befürchten, daß er sie noch einholeu konnte, er
brauchte ja nur nach dem Bahnhof zu eilen. Und
dann — sie hatte keine Zeit niehr, wie bald konnte
er wieder zurück sein.
Sie ging, das Stearinlicht in der Hand, in sein
Schlafzimmer nebenan und küßte nocks einmal sein
Kopfkissen — so heiß, wie sie einst an seinen Lippen
gehangen. Aber die Uhr, die an der Wand in
gleichmäßiger Ruhe tickte, als wäre nichts geschehen,
erinnerte sie wieder an die enteilende Zeit, und sie
riß sich los.
Dann huschte sie die breite erleuchtete Treppe
hinunter, bis sie den Flnr und das Hausthor er-
reichte.
In diesem Augenblick ging die Thür der an dem
Hauseingang gelegenen Portierloge auf, und die
Gestalt Bröckels wurde sichtbar.
Stascha erschrak, obwohl Bröckel doch auch sonst,
wenn die Herrschaft das Haus verließ, zn erscheinen
pflegte. Aber dabei fiel ihr ein, daß sie ihn an
Georg etwas ausrichten lassen konnte. „Sagen Sie
meinen: Manne," sprach sie zu ihn:, „wenn er
zurückkommt, daß ich nur eine Besorgung zu machen
gegangen bin."
Bröckel fragte noch, ob er für die Frau Baronin
einen Wagen herankommen lassen solle, aber Stascha
dankte, es sei nicht nötig. Er öffnete das Thor, und
Stascha ging hinaus.
Eine kleine Weile lang blieb Bröckel draußen
vor dem Hanse noch stehen. Die frische reine
Winterlust hatte im Gegensatz zu der Atmosphäre
in der Portierstube, wo den ganzen Tag über der
eiserne Ofen glühte, und Bröckel seine lange Weichsel-
pfeife mit dem Sountagskuaster dampfen ließ, etwas
Wohlthuendes. Aber das war es nicht, was ihn
festhielt. Es war etwas anderes, es war eine Ge-
stalt, die er drüben in dem dunklen Schatten der
Kirche bemerkte, und die sich nach der Richtung, in
der die Frau Barouin verschwunden war, jetzt gleich-
falls und mit schnellen Schritten entfernte.
„Kommst du denn nicht 'rein?" fragte hinter
ihm eine Stimme, „was hast du denn nur zn
gucken?"
Bröckel überlegte bei sich, ob er seiner Gattin
von dem Beobachteten Mitteilung machen sollte.
Aber nein. Vielleicht hing die Ehre und das An-
sehen des Hauses daran. Er gab seiner Frau also
eine ausweichende Antwort und kehrte in seine Stube
zurück. Die Pfeife war natürlich ausgegangen.
Nachdenklich entfernte er die Asche oben, nahm aus
dem grünlackierten Behälter, der an der Wand hing,
einen Fidibus und steckte sie von neuem an. Dann
setzte er sich wieder in den lederüberzogenen Groß-
vaterstuhl an der Glasthür; das Buch auf seinen
Knieen aber, in dem er vorhin gelesen hatte, blieb
jetzt unbeachtet liegen, und er sann darüber nach,
von den angenehmen blauen Rauchwolken umgeben,
ob wohl, wenn der Herr Baron keine „Polnische",
sondern eine Dame aus den heimischen Familien
zur Frau genommen hätte, gleichfalls derartige Ge-
schichten dem Hause zugestoßen wären. Denn er-

halte es ganz deutlich gesehen: es war der Herr
v. Leppin gewesen, und niehr als einmal hatte er
ihn schon dort versteckt hinter einem Pfeiler der
Kirche bemerkt, wie er zu deu Fenstern hinaufsah.
Und nun kam die Frau Baronin also heimlich zu ihm
herunter, und sie hatten eine Zusammenkunft. Hm!
Stascha eilte vorwärts. Sie suchte nach einem
Wagen. Bröckels Anerbieten wegen eines solchen
hatte sie ablehnen müssen, damit er nicht höre, wo-
hin sie der Kutscher fahren solle. Aber die Droschken-
plätze, an denen sie vorüberkam, waren leer, und
die Mietswagen, die ihr begegneten, heute am
Sonntag alle besetzt. Jetzt kam sie über den glänzend
erleuchteten Theaterplatz. Die Helligkeit erschreckte
sie. Wenn sie Bekannten hier begegnete! Sie bog
wieder in eine dunkle Seitenstraße ein. Dabei
kannte sie die Richtung nicht niehr genau, und der fest-
getretene, fast eisglatte Schnee machte ein schnelleres
Vorwärtsgehen unmöglich.
Die Angst kam wieder über sie, daß es zu spät
werden, daß Georg ihre Entfernung noch rechtzeitig
entdecken und sie erreichen würde. Hastiger wurden
ihre Schritte, nun sah sie auch, daß sie wieder in die
rechte Gegend kam, eine breite, dicht belebte elegante
Straße that sich vor ihr auf — das war sie, die
Straße nach dem Bahnhof. Dicht an: Bahnhofsplatze
wohnte ihre Schneiderin, daher war sie den Weg
schon öfters gegangen. Nun sah sie auch schon den
Platz vor sich liegen — das strahlende Gebände,
das Denkmal davor und ringsherum die Hotels.
Es schien soeben ein Zug angekommen zu sein, denn
in langer, ununterbrochener Kette rollte von dem
Portal aus Wagen an Wagen vorbei. Sie mußte
durch die rollende Kette hindurch, so schnell es der
schlüpfrige Boden nur erlaubte.
Wie sie an dem Laternenpfahle vor dem Trottoir-
rand stehen blieb, so blieb, nnr zehn Schritte hinter
ihr, auch eine andere Gestalt stehen, die ihr, ohne daß
sie es gemerkt hätte, fortwährend gefolgt war. Es
war Herr v. Leppin. Mochten sich gewisse Leute über-
feine Verehrung, so aussichtslos, so voll schmerzlicher
Entsaguug sie anch war, immerhin lustig machen;
jedenfalls gab es für ihn kein schöneres Sonntags-
vergnügen, als sich hinter den Pfeiler an der Kirche
zu stellen und „ihren" Schatten an den weißen
Fenstervorhängen des alten großen Hauses zn beob-
achten, das heißt, wenn er eben einmal in einen:
günstigen Momente sichtbar wurde. Dann sah er-
ste aus dem Hause treten, und magnetisch zog sic
ihn hinter sich her. Wo wollte sie hin — so allein
und außerdem zu Fuß? Uud was bedeutete die
braune Ledertasche, die sie nun unter dem Mantel
hervorzog, gleichsam wie ein Geheimnis, das sie
bisher verborgen hatte? — Also nach dem Bahnhof
wollte sie! Aber was hatte sie dort zu thun?
Nun setzte sie ihre Füße weiter. Wenn sie sich
nm Gottes willen nur vor den Wagen in acht nahm!
Im nächsten Moment hörte man vom Straßen-
damm einen Schrei. Man sah ein vor einem Wagen
sich bäumendes Pferd, ans den: Bock den mit hoch-
geschwungener Peitsche schimpfenden Kutscher, in: Nu
bildete sich ein nut jeder Sekunde dichter werdender
Kreis von Menschen herum, ein Schutzmann eilte
herbei. Im Schnee unter den Wagenrädern lag
eine weibliche Gestalt. Es war jemand überfahren
worden.
Der Kutscher behauptete, er habe keine Schuld,
die Dame sei direkt in den Wagen hineingerannt.
Gerade als man die Verunglückte aufhob, sah
mau einen Herrn sich in den Kreis drängen, welcher
erklärte, die Dame zu kennen, und sie nach ihrcr
Wohnnng bringen zn wollen. Sie war noch immer
ohnmächtig. Von äußeren Verletzungen war vor-
läufig nichts an ihr rvahrzunehmen.
Ein Wagen wurde herangerufen, der fremde Herr
nannte den: Kutscher eine Adresse, und zusammen
mit dem Schutzmann, der dann mit einstieg, hob
er die noch immer Ohnmächtige hinein. „Platz!"
schrie der Kutscher, hieb auf das Pferd ein, uud der
Wagen rollte davon.
Die schüttelnde Bewegung brachte Stascha zum
Bewußtsein. Sie schlug die Augen auf, sah bei dem
Hellen Licht, das gerade in den Wagen fiel, einen
Helm vor sich und dann weiter ein bekanntes Ge-
sicht — Herrn v. Leppin.
„Sie sind unter einen Wagen gekommen, Frau
Baronin. Fühlen Sie sich verletzt? Wir bringen
Sie nach Hause."
Sie schien, was er sagte, zu verstehen. Aber bei
seinen letzten Worten malte sich Angst und Entsetzen
in ihrem Gesicht. Es war, als ob sie etwas darauf
entgegnen wollte, aber nur ein Stöhnen entrang
sich ihren Lippen. Sie fühlte gewiß Schmerzen.
Der Schutzmann fing jetzt an zu reden. Die
Sache sei wohl noch glimpflich abgelaufen, aber der
Kutscher- würde seine Strafe erhalten, es käme bloß
auf die Zeugenaussage der Dame an. Auch die
Tasche sei ja wohl beschädigt. Wenn der Kutscher ver-
 
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