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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 37.1902

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Heft 22
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https://doi.org/10.11588/diglit.44085#0532
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532

Das Buch für Alle.

Heft 22.

werk erlernt, doch gerade, nachdem ich als Geselle
freigesprochen worden war, konnte ich ungeachtet
aller Bemühungen nirgends Arbeit bekommen. Das
war anfangs l854. Herr Lnkas Marreau, der Chef
der gleichnamigen Firma, war entfernt mit meinen
Eltern verwandt und gab mir ans Mitleid eine
Anstellung. Ich sollte während jeder Nacht vor der
Thür des Kassenzimmers wachen; dafür bekam ich
eine Kleinigkeit, die mich gerade vor dem Verhungern
schützte.
Ich stellte mich gewöhnlich gegen sechs Uhr abends
ein. Um diese Zeit schloß Bernhard Mouthiers,
der erste Kassierer, seine Bücher ab und verschloß
den großen eisernen Geldschrank. Dabei war ich
jeden Abend zugegen, ohne besondere Absicht paßte
ich immer genau auf, so daß ich schon nach kurzer
Zeit vom bloßen Zusehen mit allem Bescheid wußte.
Das sollte mich zum Verbrecher werden lassen.
Immer wieder kam mir der Gedanke, nachts, wenn

ich ganz allein wäre, den Schrank zn öffnen, um
mir seinen reichen Inhalt anzueignen und mich dann
aus dem Staube zu machen.
Noch war ich jedoch nicht ganz einig mit mir, als
sich ein seltsamer Zwischenfall ereignete. Herr Lnkas
Marreau war ein großer Lebemann, von dem man
sich in Havre allerlei wenig erbauliche Geschichten
erzählte. Ich sagte mir, daß bei einem Manne, der
das Geld so mit vollen Händen um sich streute, ein
paar tausend Franken mehr oder weniger keine Rolle
spielen könnten. Spät in der Nacht erschien er
häufig noch in den Geschäftsräumen, um sich dort
Geld zu hole», wahrscheinlich wenn er alles verspielt
hatte, was er bei sich trug. Er entnahm dieses
Geld seiner persönlichen Kasse, die er in dem Schreib-
tische in seinem Kabinett aufbewahrte, nm dann
wieder zu verschwinden. Nicht selten kam er mit
einem Mordsrausch und wankte wie ein Schiff ans
stürmischer See.

Einen solchen Menschen zu schädigen, erschien
mir immer mehr als etwas nicht allzu Verwerfliches.
Ich machte mir einen Schlüssel, um die Thür zu
öffnen, vor der ich schlief, und durch die man in
den Raum gelangte, wo der große Kassenschrank
stand. Er paßte tadellos, nützte mir aber dennoch
nichts, solange ich nicht auch einen Schlüssel zn der
Kaffe selbst hatte. Den konnte ich nicht fertig
bringen, obwohl ich ein ganz tüchtiger Schlosser war;
da kam mir der Teufel zu Hilfe.
In einer Nacht, als ich mich wie gewöhnlich auf
meinem Posten befand, kam Lukas Marreau wieder
einmal, nm seine Taschen mit Geld zu füllen. Er
ivar sehr stark bezecht, nnd als ich, da er ungewöhn-
lich lange in seinem Kabinett blieb, dort endlich
nachschaute, fand ich ihn vor seinem Schreibtisch
schnarchend auf der Erde liegen. Sein Schlüssel-
bund steckte im Schloß des Schreibtisches.
Daß er anfwacheu würde, war kaum zu be¬


fürchten. Mit meinen Gewissensbedenken war ich
schon vorher fertig geworden. Ich nahm daher den
Schlüsselbund, unter dessen Schlüsseln sich auch der
zur großen Kasse befand. Mit meinem Nachschlüssel
öffnete ich das Kassenzimmer, stellte das Vexier-
schloß richtig ein und öffnete den Schrank mit Herrn
Marreaus Schlüssel. Vor mir lagen auf einem
Zählbrett mehrere Päckchen Banknoten, die ich an
mich nahm und schleunigst in meinen Taschen ver-
schwinden ließ. Dann verschloß ich den Schrank und
die Zimmerthür, vor die ich wieder meine Bettstelle
rückte, und steckte den Schlüsselbund in das Schloß
des Schreibtisches. Hierauf weckte ich Herrn Mar-
reau, der sich nun brummend entfernte.
Nachdem ich meine Beute gut versteckt hatte,
beobachtete ich ruhig die weitere Entwickelung der
Dinge. Der Kassierer Mouthiers ging in den nächsten
drei Tagen wie ein Verrückter umher; jedoch verlautete
zunächst gar nichts über den Verlust. Endlich be-
schuldigte man zwei junge Leute, Jacques Ville-
franche und Julius Berger, die bis kurz vorher
Angestellte des Hauses gewesen, inzwischen aber nach
Amerika ausgewandcrt waren. Sie wurden auch
thatsächlich verurteilt, weil sie ihre letzten Einkäufe
in Havre mit Banknoten bezahlt hatten, die ebenso
mit gewissen Zeichen versehen waren, wie die in
meinen Besitz geratenen.

llsr Mcn „lni lllaqa", ein lpanilcksr lllciienbrciucti. (8. 5Z0)
Ich ließ mir das zur Warnung dienen und ver-
ausgabte in Havre kein einziges Stück davon.
Gleichzeitig ging ans den Verhandlungen hervor,
daß man kein Nummernverzeichnis der abhanden
gekommenen Banknoten besaß. Als ich daher nach
etwa vier Monaten gleichfalls nach Amerika aus-
wanderte, brauchte ich drüben weiter kein Bedenken
zn tragen, meinen Schatz umwechseln zu lassen. Es
ruhte aber kein Segen darauf. Bald war ich mit
allem fertig und kehrte arm wie eine Kirchenmaus
nach Frankreich zurück, wo ich mich unn eleud durch-
schlug, bis ich endlich bei Herrn Mouthiers, dem
ehemaligen Kassierer, in Montsombre ein Unter-
kommen fand.
Da Villefranche und Berger im Auslande weilten
und deswegen nicht ins Zuchthaus zu wandern
brauchten, so fühlre ich mich ihretwegen in meinem
Gewissen nicht beunruhigt. Das gleiche war der
Fall Mouthiers gegenüber, solange es ihm gut ging.
Erst als ich erfuhr, daß nach seinem schrecklichen
Ende ein Schriftstück von ihm aufgefunden worden
sei, in dem der tiefsinnig und im Geiste unklar ge-
wordene Mann sich selber jenes Diebstahls anklage;
als ich ferner vernahm, daß seine Tochter und seine
Enkelin dadurch mit schweren Verwickelungen bedroht
würden, regte sich das Gewissen in mir.
Um ihnen ihre Ehre zn erhalten und zugleich, um

Jacques Villefranche und Julius Berger vou der nach
ihrer Heimkehr gegen sie erhobenen Beschuldigung zn
reinigen, will ich in der Stunde meines Todes die
Wahrheit bekennen. Daß dies vorstehend Bekundete
die reine Wahrheit sei, bestätige ich hiermit an Eides-
statt; einem Sterbenden wird man wohl glauben,
daß er nicht mit einer Lüge ins Jenseits gehen will."
Dies ordnungsmäßig aufgesetzte Protokoll unter-
zeichnete Carcagneux mit der letzten Kraft; nachdem
der Anstaltsgeistliche hieraus seines Amtes bei, ihm
gewaltet, und er Georg und Barbazeille noch einmal
matt zugenickt hatte, verschied er. Die Anwesenden
unterzeichneten das Protokoll, von dem Georg, nach-
dem er seinen Wunsch dem Direktor gegenüber-
motiviert hatte, eine Abschrift ansgefertigt erhielt,
während das Original dem zuständigen Gericht über-
sandt wurde.

22.
Das Herz von namenloser Freude erfüllt, warf
sich Georg Lancemont, nachdem er sich von Bar-
bazeille verabschiedet hatte, in eine Droschke und ließ
sich zn dem Hause der Fran Vasselin fahren, wo er
Fränlein Sabine in dringendster Angelegenheit so-
fort zn sprechen begehrte. Da er noch in seinem
gewöhnlichen Arbeitsanzuge war, so wollte der Thür-
 
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