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Das Buch für Alle.
Hcs! 24.
Eisstücke. Er sei zu seinem Pfleger bestellt, meldete
der junge Mensch. Er war klein und buckelig, zur
Arbeit sonst nicht zu brauchen; da mochte solche
Beschäftigung ihm ganz willkommen sein.
Der Junge erwies sich als anstellig und willig;
er hatte dem Kranken Linderung gebracht, hatte
mittels einer Schnur Ritters gesunden Fuß mit
einer Glocke in Verbindung gebracht und schlich nun
auf den Zehen hinaus. Und Mr. Morton setzte sich
zurecht.
,/Istors is no cllonll viistont a silvsi-Uns!"*) be-
gann er. „Wir werden auch ans diesem Unfall Geld
herausschlagen. Lassen Sie mich morgen mit meinem
Anwalt sprechen. Und geben Sie mir Ihr Wort,
sich mit niemand einzulassen, vor allem nichts zu
unterschreiben, bevor Sie meinen Rechtssrennd ge-
sehen haben. Er ist einer der angesehensten Ad-
vokaten von New Jork, ein ausgezeichneter Geschäfts-
Z Keine Wolke ohne silbernen Saum.
mann ihm wollen wir die Angelegenheit
vertrauensvoll in die Hand geben. Ich sage es
Ihrer Wirtin, daß Sie für niemand zu sprechen
sind, als für meinen Anwalt!" —
Er war gegangen. Den unglücklichen Ritter-
trügen heiße Fiebertränme von dannen. Er sah sich
an der Spitze seines Orchesters stehen; doch statt
reiner Harmonien schlugen greuliche Mißlaute an
sein Ohr, ein wüster Lärm betäubte ihn und ver-
geblich bemühte er sich „abznklopfen", er konnte die
bleischweren Arme nicht heben - der Arzt hatte sie
festgebnnden.
Verhältnismäßig sehr schnell war Ritters Fuß
geheilt. Auch vou dem linken Arm konnte man schon
nach etwa einem Monat den Verband abnehmen.
Das Glied erwies sich als schwerfällig, aber es würde
wieder brauchbar werden mit der Zeit. Sehr
traurig dagegen stand cs um den rechten Arm.
Mehr als vier Monate waren seit dem Unfall ver-
! gangen und immer, oder vielmehr stets von neuem
lag der Arm in steifem, schwerem Verband. Außer-
Doktor Carpenter hatte einer der berühmtesten
Chirurgen New Jorks den Arm in Behandlung ge-
nommen - - man hatte es dem bedauernswerten
Ritter nicht erspart, daß das Handgelenk, eben not-
dürftig aneinander-gewachsen, gewaltsam wieder ge-
brochen wurde, weil mau annehmen mußte, ein da-
zwischen liegender- Knochensplitter sei der völligen
Heilung hinderlich. Unbeschreibliche Qualen hatte
der Aermste erduldet, und das Ende war, daß das
Handgelenk unbeweglich, die Finger steif blieben.
Nur am Ellenbogen hatte der Arm wieder einige
Elastizität gewonnen. Für den Verns eines Dirigenten,
der ja unter allen Umständen auch ein Instrument
spielen muß, war Friedrich Ritter dauernd unbrauch-
bar geworden.
Und nicht minder aussichtslos stand es mit dem
Prozeß. Herr Morton hatte sich von der ganzen
Angelegenheit zurückgezogen. Er hätte ja, wenn
llnstckt von Srar. (8. 583)
er als Mitgeschädigter auftreten wollte, vor allen
Dingen seinen eigenen Vertrag nut Ritter erfüllen,
dem letzteren eine nicht unbedeutende Summe jährlich
zahlen müssen. Denn nur, wenn Ritter noch in
seinem Dienst stand, konnte Morton einen Schaden-
ersatz verlangen. Aber Herr Morton wußte, daß
Prozesse in Amerika unabsehbar in die Länge gezogen
werden können, besonders wenn sie gegen mächtige,
kapitalskräftigc Korporationen gerichtet sind. Sollte
er bares Geld daraufzahlen, um Jahre und Jahre
ans ein, im allerbesten Falle noch immer zweifelhaftes
Resultat zu warten? Nein! Er ließ sich von Ritter
einen anderen hervorragenden Dirigenten empfehlen,
kontrahierte telegraphisch mit diesem — schlug noch
eine ungeheure Reklame für sein Konzertunternehmen
aus Ritters Unfall und ward nicht mehr gesehen.
Dagegen schien sein Rechtsfreund sich des Falles
Ritter sehr ernstlich anzunehmen. Er hatte sich an-
geblich genau informiert, hielt die Sache für derart
ktargestellt, daß an einen Mißerfolg gar nicht zu
denken war, und traf — nach echt amerikanischer
Art - mit Ritter ein Abkommen, wonach ihm, dem
Advokaten, ein Drittel der erstrittenen Schadenersatz-
summe zufallen sollte. Irgend welche Gebühren habe
er in keinem Falle zu verlangen. Andererseits mußte
Ritter sich verbindlich machen, New Jork nicht zu
verlassen, ehe nicht ein Urteil gefällt wäre, weil das
Gericht unter asten Umständen das persönliche Er-
scheinen des Verletzten anordnen würde. Geklagt
wurde um die Kleinigkeit von hunderlfünfzigtausend
Dollars, und zwar mit der Begründung, daß die
Zinsen dieser Summe nicht annähernd das bisherige
Jahreseinkommen des bernfsunfähig gewordenen
Dirigenten deckten.
Der Prozeß war in aller Form eingeleitet.
Freilich, solcher Prozesse schweben gleichzeitig immer
mindestens fünfhundert gegen dieselbe Straßenbahn-
gesellschaft. Vergeht doch nicht ein Tag, an dem
nicht eine ganze Anzahl Menschen den elektrisch be-
triebenen Wagen zum Opfer fällt Da nun überdies
die amerikanischen Gerichtsordnungen ein sehr ge-
mächliches Tempo zulassen, so war vorläufig an eine
Verhandlung nicht zu denken. Aber in Aussicht
stand eine gewisse Entschädigung für Ritter jeden-
falls — darüber gab es nur eine Meinung.
Leider reichten seine Reserven durchaus nicht für
eine Zeit von Jahren. Die enorm hohen ärztlichen
Honorare, die erforderliche Pflege und Bedienung,
die nach wie vor fortlaufenden Kosten des Haus-
standes in Deutschland — das alles hatte schon nach
wenig mehr als Jahresfrist aufgezchrt, was Ritter
an Ersparnissen besaß. Noch konnte er überhaupt
nicht daran denken, sich etwa einem neuen Erwerb
zuzuwenden. Er hatte gelernt, mühsam mit der
linken Hand zu schreiben — damit ließ sich in New
Jork kein Brot verdienen. Wenn Malvine, die sich
damals körperlich noch einmal erholt zn haben schien,
durch sein Unglück erschüttert, endlich zur Selbst-
beherrschung gelangt wäre, gab es die Möglichkeit,
gemeinsam mit ihr hier eine Gesangschule zu er-
richten, in der er als Lehrer der Musiktheorie sich
nützlich machen konnte. So wandte er von seinen zn
Ende gehenden Mitteln zweimal den nun schon
nennenswerten Betrag für ihre und der Kinder
Ucberfahrt ans. Vergeblich, sie hatte alle Lebens-
energie verloren.
Noch ein paar Monate schleppte er sich hin, ver-
suchte es mit .Kompositionen — endlich, als er sich
buchstäblich auf dem Trockenen sah, das letzte ent-
behrliche Stück verkauft hatte, traf ihn die Nachricht
von Malvinens Tod. Sie hatte durch sinnlose Miß-
wirtschaft eine übergroße Schuldenlast ans sich ge-
laden und, als sie den Zusammenbruch kommen sah,
eine Dosis Opium genommen, die ihr für aste Zeit
Ruhe schaffte.
Er hatte nur ein dumpfes Schmerzgefühl. Auch
gegen das Leid stumpft sich der Mensch ab — genau
so, wie gegen den Genuß.
Vollkommen zn Grunde gerichtet, von aller Welt
verlassen und vergessen,^hätte er kein Bedenken ge-
tragen, auch seinerseits ein Ende zu machen mit aller
Das Buch für Alle.
Hcs! 24.
Eisstücke. Er sei zu seinem Pfleger bestellt, meldete
der junge Mensch. Er war klein und buckelig, zur
Arbeit sonst nicht zu brauchen; da mochte solche
Beschäftigung ihm ganz willkommen sein.
Der Junge erwies sich als anstellig und willig;
er hatte dem Kranken Linderung gebracht, hatte
mittels einer Schnur Ritters gesunden Fuß mit
einer Glocke in Verbindung gebracht und schlich nun
auf den Zehen hinaus. Und Mr. Morton setzte sich
zurecht.
,/Istors is no cllonll viistont a silvsi-Uns!"*) be-
gann er. „Wir werden auch ans diesem Unfall Geld
herausschlagen. Lassen Sie mich morgen mit meinem
Anwalt sprechen. Und geben Sie mir Ihr Wort,
sich mit niemand einzulassen, vor allem nichts zu
unterschreiben, bevor Sie meinen Rechtssrennd ge-
sehen haben. Er ist einer der angesehensten Ad-
vokaten von New Jork, ein ausgezeichneter Geschäfts-
Z Keine Wolke ohne silbernen Saum.
mann ihm wollen wir die Angelegenheit
vertrauensvoll in die Hand geben. Ich sage es
Ihrer Wirtin, daß Sie für niemand zu sprechen
sind, als für meinen Anwalt!" —
Er war gegangen. Den unglücklichen Ritter-
trügen heiße Fiebertränme von dannen. Er sah sich
an der Spitze seines Orchesters stehen; doch statt
reiner Harmonien schlugen greuliche Mißlaute an
sein Ohr, ein wüster Lärm betäubte ihn und ver-
geblich bemühte er sich „abznklopfen", er konnte die
bleischweren Arme nicht heben - der Arzt hatte sie
festgebnnden.
Verhältnismäßig sehr schnell war Ritters Fuß
geheilt. Auch vou dem linken Arm konnte man schon
nach etwa einem Monat den Verband abnehmen.
Das Glied erwies sich als schwerfällig, aber es würde
wieder brauchbar werden mit der Zeit. Sehr
traurig dagegen stand cs um den rechten Arm.
Mehr als vier Monate waren seit dem Unfall ver-
! gangen und immer, oder vielmehr stets von neuem
lag der Arm in steifem, schwerem Verband. Außer-
Doktor Carpenter hatte einer der berühmtesten
Chirurgen New Jorks den Arm in Behandlung ge-
nommen - - man hatte es dem bedauernswerten
Ritter nicht erspart, daß das Handgelenk, eben not-
dürftig aneinander-gewachsen, gewaltsam wieder ge-
brochen wurde, weil mau annehmen mußte, ein da-
zwischen liegender- Knochensplitter sei der völligen
Heilung hinderlich. Unbeschreibliche Qualen hatte
der Aermste erduldet, und das Ende war, daß das
Handgelenk unbeweglich, die Finger steif blieben.
Nur am Ellenbogen hatte der Arm wieder einige
Elastizität gewonnen. Für den Verns eines Dirigenten,
der ja unter allen Umständen auch ein Instrument
spielen muß, war Friedrich Ritter dauernd unbrauch-
bar geworden.
Und nicht minder aussichtslos stand es mit dem
Prozeß. Herr Morton hatte sich von der ganzen
Angelegenheit zurückgezogen. Er hätte ja, wenn
llnstckt von Srar. (8. 583)
er als Mitgeschädigter auftreten wollte, vor allen
Dingen seinen eigenen Vertrag nut Ritter erfüllen,
dem letzteren eine nicht unbedeutende Summe jährlich
zahlen müssen. Denn nur, wenn Ritter noch in
seinem Dienst stand, konnte Morton einen Schaden-
ersatz verlangen. Aber Herr Morton wußte, daß
Prozesse in Amerika unabsehbar in die Länge gezogen
werden können, besonders wenn sie gegen mächtige,
kapitalskräftigc Korporationen gerichtet sind. Sollte
er bares Geld daraufzahlen, um Jahre und Jahre
ans ein, im allerbesten Falle noch immer zweifelhaftes
Resultat zu warten? Nein! Er ließ sich von Ritter
einen anderen hervorragenden Dirigenten empfehlen,
kontrahierte telegraphisch mit diesem — schlug noch
eine ungeheure Reklame für sein Konzertunternehmen
aus Ritters Unfall und ward nicht mehr gesehen.
Dagegen schien sein Rechtsfreund sich des Falles
Ritter sehr ernstlich anzunehmen. Er hatte sich an-
geblich genau informiert, hielt die Sache für derart
ktargestellt, daß an einen Mißerfolg gar nicht zu
denken war, und traf — nach echt amerikanischer
Art - mit Ritter ein Abkommen, wonach ihm, dem
Advokaten, ein Drittel der erstrittenen Schadenersatz-
summe zufallen sollte. Irgend welche Gebühren habe
er in keinem Falle zu verlangen. Andererseits mußte
Ritter sich verbindlich machen, New Jork nicht zu
verlassen, ehe nicht ein Urteil gefällt wäre, weil das
Gericht unter asten Umständen das persönliche Er-
scheinen des Verletzten anordnen würde. Geklagt
wurde um die Kleinigkeit von hunderlfünfzigtausend
Dollars, und zwar mit der Begründung, daß die
Zinsen dieser Summe nicht annähernd das bisherige
Jahreseinkommen des bernfsunfähig gewordenen
Dirigenten deckten.
Der Prozeß war in aller Form eingeleitet.
Freilich, solcher Prozesse schweben gleichzeitig immer
mindestens fünfhundert gegen dieselbe Straßenbahn-
gesellschaft. Vergeht doch nicht ein Tag, an dem
nicht eine ganze Anzahl Menschen den elektrisch be-
triebenen Wagen zum Opfer fällt Da nun überdies
die amerikanischen Gerichtsordnungen ein sehr ge-
mächliches Tempo zulassen, so war vorläufig an eine
Verhandlung nicht zu denken. Aber in Aussicht
stand eine gewisse Entschädigung für Ritter jeden-
falls — darüber gab es nur eine Meinung.
Leider reichten seine Reserven durchaus nicht für
eine Zeit von Jahren. Die enorm hohen ärztlichen
Honorare, die erforderliche Pflege und Bedienung,
die nach wie vor fortlaufenden Kosten des Haus-
standes in Deutschland — das alles hatte schon nach
wenig mehr als Jahresfrist aufgezchrt, was Ritter
an Ersparnissen besaß. Noch konnte er überhaupt
nicht daran denken, sich etwa einem neuen Erwerb
zuzuwenden. Er hatte gelernt, mühsam mit der
linken Hand zu schreiben — damit ließ sich in New
Jork kein Brot verdienen. Wenn Malvine, die sich
damals körperlich noch einmal erholt zn haben schien,
durch sein Unglück erschüttert, endlich zur Selbst-
beherrschung gelangt wäre, gab es die Möglichkeit,
gemeinsam mit ihr hier eine Gesangschule zu er-
richten, in der er als Lehrer der Musiktheorie sich
nützlich machen konnte. So wandte er von seinen zn
Ende gehenden Mitteln zweimal den nun schon
nennenswerten Betrag für ihre und der Kinder
Ucberfahrt ans. Vergeblich, sie hatte alle Lebens-
energie verloren.
Noch ein paar Monate schleppte er sich hin, ver-
suchte es mit .Kompositionen — endlich, als er sich
buchstäblich auf dem Trockenen sah, das letzte ent-
behrliche Stück verkauft hatte, traf ihn die Nachricht
von Malvinens Tod. Sie hatte durch sinnlose Miß-
wirtschaft eine übergroße Schuldenlast ans sich ge-
laden und, als sie den Zusammenbruch kommen sah,
eine Dosis Opium genommen, die ihr für aste Zeit
Ruhe schaffte.
Er hatte nur ein dumpfes Schmerzgefühl. Auch
gegen das Leid stumpft sich der Mensch ab — genau
so, wie gegen den Genuß.
Vollkommen zn Grunde gerichtet, von aller Welt
verlassen und vergessen,^hätte er kein Bedenken ge-
tragen, auch seinerseits ein Ende zu machen mit aller