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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 37.1902

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Heft 28
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https://doi.org/10.11588/diglit.44085#0679
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684

Das Buch für Alle.

Heft 2».

getäuscht, und daß sie ganz so war, wie er sich sie
vorgestellt hatte. Sie sprach ja auch heute nicht
viel, aber das Wenige war der Ausfluß einer reinen,
stolzen Seele, die nur kalt schien, weil sie ihr Gefühl
tief im Inneren versteckte.
Wer sie näher kennen lernte, brauchte nicht zu
fürchten, in ihr eines jener Mädchen zu finden, die
nichts sind als schön. O nein! Eine warme Welle
flutete durch Georgs Herz. Und wenn er auch un-
glücklich liebte und sie nie erringen sollte, wenigstens
blieb ihm die Beschämung erspart, sein Herz an eine
schöne leere Hülse weggeworfen zu haben, und er
war ihr dankbar, daß ihr Wert seine rasch auf-
geflammte Liebe rechtfertigte.
Die in ihm aufwallcnden Empfindungen verhehlte
er männlich, äußerlich gleichmütig das Gespräch fort-
führend. Sie beherrschte nicht nur die deutsche

Sprache viel besser, als er es gedacht hatte, — besser
als er die französische — sondern sie hatte auch viele
deutsche Autoren gelesen.
„Wir leben sehr stille, meine Mutter und ich,"
erklärte sie. „Da ist man auf Lektüre angewieseu.
Schreibe ich aber nach Paris an Henri um Bücher,
dann sendet er mir sicher immer deutsche und eng-
lische."
„Ja, die unserigen bekommst du erst, wenn du
verheiratet bist," ergänzte Henri sich umwendend.
„Siehst du?" scherzte Camilla. „Es ist schon
der Mühe wert, zu heiraten, bloß damit man bisher
verbotene Bücher in die Hände bekommt."
„Oho!" lehnte sich Henri auf. „Die kriegst du
auch nach der Hochzeit noch lange nicht, meine liebe
Camilla!"
Sie gerieten darüber in einen kleinen Streit, de»

jedoch Georg mit einer anderen Neckerei schloß, in-
dem er Henri versicherte, daß alle Bücher, außer
solche, bei denen man Ströme von Thräncn ver-
gießen könne, vor Camilla vollkommen sicher seien,
und Camilla konnte ihre Vorliebe für rührselige
Lektüre auch gar nicht leugnen.
„Eben weil ich sonst heiter bin und keine Grillen
fange," erklärte sie, „brauche ich erfundene Leiden, um
mich zuweilen answeiuen zu können. Danach müßte
Blanche eigentlich bloß die Fliegenden Blätter lesen."
Lächelnd gestand das junge Mädchen eine Nei-
gung zu humoristischen Schriftstellern zu, aber vor-
allem liebte sie Bücher nicht, in denen Häßliches
und Unglücksfälle sich häuften.
„Ich sehe schon," spöttelte Camilla, „du bist
mitleidig gegen papicrne Helden, und bloß im Leben
hartherzig."


krüliltückspaule. llacü einem Semälcle von ll. ll. Lliantron.

Der Pfeil traf so keck ins Ziel, daß Blanche von
Blutröte übergossen wurde. Georg warf der Schwester
wegeu dieses naseweisen Berührens eines verbotenen
Punktes einen unwillig mahnenden Blick zu, aber
Camilla ließ nicht locker und scherzte unbekümmert
weiter über die weichen Seelen, die es nicht ertragen,
wenn ein Romanliebhaber unerhört schmachtet, selber
aber die schönsten Körbe flechten.
Henri hatte alle Mühe, diese Sticheleien ins all-
gemeine zu lenken und den Abstand des Gefühls wirk-
lichen und erfundenen Schmerzen gegenüber, den man
häufig beobachten kann, philosophisch zu beleuchten.
Man war unterdessen schon weit genug gegangen,
und teils deshalb, teils um die etwas gestörte Stim-
mung wieder herzustellen, schlug Henri vor, irgend-
wo einzukehren, um eine Erfrischung zu sich zu
nehmen.
Von seinen früheren Streifzügen her war ihm
eine genaue Lokalkenntnis aller Wirtschaften, wo
man etwas Trinkbares erhalten konnte, geblieben,
und so brauchte er sein Gedächtnis auch nicht lange
anzustrengen, um auch hier in der Nähe einen solchen
Ort zu finden.

Ein wenig unterhalb der Straße, nahe am Ufer
des Flusses, stand ein weißes Haus, oder vielmehr
zwei Häuser, die im rechten Winkel aneinander stießen,
während der zwischen beiden Gebäuden befindliche
Raum lange Tische und Bänke enthielt, an denen
kein einziger Besucher saß.
Man stieg hinunter, und Henri wählte einen voni
Luftzug geschützten Tisch au der Hausmauer unter
einer jungen Kastanie, die eben erst ihre dicken
braunen, saftstrotzenden Knospen zu erschließen begann.
Eine junge Kellnerin mit munteren Augen fragte
nach dem Begehren der Gäste und brachte bald das
Bestellte, wenigstens die von Henri geforderte Flasche
Wein. Aus den Kaffee für die Damen hingegen
mußte man warten.
Indessen, dazu war man ja da. Die Stelle war
hübsch und die Luft angenehm, der Himmel spannte
sich hoch und hell, mit leichten weißen Wölkchen
marmoriert, über ihnen aus, und mit lebhafterem
Rauschen und Murmeln, als belebe der Frühling
ihren Lauf, eilte die Mosel zwischen ihren Ufern
dahin. An diesen herrschte reges Leben von nest-
bauenden Vögeln, die ab und zu flogen, mit ihrem

Zwitschern die Luft erfüllend, und wenn Henri mit
seinen Blicken irgend einem Bachstclzchen oderWasscr-
schwälbchen folgte, das, einen Halm im Schnabel,
seinem unsichtbaren Neste zuflog, dann lächelte er
halb gerührt und halb neckisch Camilla zu, die ihrer-
seits ganz gut verstand, was dieses Lächeln bedeutete.
Es war eine schöne Stunde, welche die vier da
verlebten. Blanche schien Camillas Neckereien nicht
übel genommen zu haben; sie war wohl nachdenklich,
aber sanfter und freundlicher, als sie Georg je ge-
sehen hatte. Aber er sagte sich, daß er darauf keine
Hoffnungen gründen dürfe. Es war ihm ja schon
einmal so gegangen, daß er einen milderen Blick
mißdeutet, zu viel Gewicht darauf gelegt hatte. Er
wollte nicht mehr in diesen Irrtum verfallen. Konnte
er doch nicht ahnen, daß in Blanches Innerem
immer noch die Worte widerhallten, die Camilla
neulich fallen gelassen hatte. Das Wehen der Lüfte,
das Murmeln der Wellen und das Zwitschern der
Vögel, alles hatte dieselbe Bedeutung, aus allem
klangen unaufhörlich die Worte an ihr Ohr: „Nicht
mitzuhassen, mitzuliebcn bin ich da."
 
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