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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 37.1902

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Heft 7
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Das Buch für Alle.

Ajt 7.

Ich willfahrte ihrem Wunsche N'.id hatte das
Vergnügen, einen guten Teil ihres Gewichtes den
Grasabhang hinunter zu schleppen, ein Arrangement,
Las ihr hohe Befriedigung zu gewähren schien.
Ihr Glück sollte nicht von langer Dauer sein.
Gin dumpfes Gebrüll ertönte hinter uns. Ich wandte
wich nm. Am Waldrande, kaum hundert Schritte
von uns entfernt, scharrte ein mächtiger Stier den
Boden mit den Vorderhufen und musterte uns mit
tückischen Blicken.
Fräulein Liebgeru preßte heftig meinen Arm und
stieß einen gellenden Schrei aus. „Retten Sie mich!
O, retten Sie mich!" rief sie kreischend.
„Still!" herrschte ich. „Lassen Sie meinen Arm
los!"
Sie gehorchte, halb gelähmt vor Furcht.
„Gehen Sie so rasch als Sie können nach der
Pforte, aber rennen Sie nicht, oder er ist im Augen-
blick hinter Ihnen her. Ich will versuchen, ihn so
lange wie möglich aufzuhalten. Fort jetzt!"
„Was! Sic verlassen?" rief sic händeringend. „Sie
dem Untergange preisgeben? Nie — nie — niemals!"
„Nehmen Sie Vernunft an und thun Sie, was
ich Ihnen sage. Wenn Sie nicht selber dem Unter-
gänge preisgegcben sein wollen, wie Sie's nennen,
dann haben Sie keine Zeit zu verlieren. — Fort!
Er kommt!"
Die letzten Worte hatten den gewünschten Erfolg.
Sie warf mir noch einen unbeschreiblichen Blick zu
und setzte sich in Bewegung Ich folgte, den Stier-
nicht aus den Augen lassend und langsam rückwärts
schreitend. Eine Weile beobachtete der Stier, dann
stieß er ein zweites kurzes Gebrüll ans, avancierte
und stand wieder still. Ein Blick über die Schulter-
zeigte mir, daß Fräulein Liebgern die Pforte nahezu
erreicht hatte, und ich rief ihr ermunternd zu. Der
Süer mochte meinen Rnf für eine Herausforderung
nehmen, er antwortete mit einem dritten Gebrüll
und attackierte.
„Laufen Sie! Laufen Sie und schließen Sie
das Thor hinter sich," ries ich, mich zur Flucht
wendend, nachdem ich vorher noch rasch meinen Rock
dem Verfolger entgegengeschleudert hatte. Wenige
Sekunden nur hielt er sich damit auf, auf dem
Kleidungsstücke herumzntrampeln, dann stürmte er
wieder hinter mir her. Rasch rückwärts schauend,
sah ich den zum Stoß gesenkten Kopf nur noch
wenige Schritte von mir entfernt, — noch einen
Augenblick, und — über einen Maulwurfshügel
stolpernd, stürzte ich zu Boden, überschlug mich und
blieb halb betäubt liegen, während der Stier im
vollen Rennen weiter raste.
Ein Schrei nach dem anderen entrang sich den
Lungen der entsetzten, glücklich hinter dem Zaune
gesicherten Dame. Damit that sie unbewußt das
beste, was sie thun konnte. Die Wut des Stieres
wandte sich dem neuen Gegenstände zu, auf den er
blindlings losjagte, bis das solide Hindernis des
Zaunes ihm Stillstand gebot. Ich sprang eiligst
wieder aus die Füße, lief im Rücken des Ungetüms
in schräger Richtung nach dem Zaune, kletterte
hinüber und sank atemlos ins Gras.
Sobald die empfindsame Jnngfrau gewahrte, daß
ich geborgen war, eilte sie an meine Seite und über-
schüttete mich mit den Ausbrüchen ihrer Dankbar-
keit: „O, mein Erretter! Mein edler Befreier! Mein
großherziger, furchtloser Held! Wie soll ich Ihnen
danken? Ich schulde Ihnen mein Leben — es soll
Ihnen gehören!"
- Sie war vor mir auf die Kniee gesunken und
gestikulierte lebhaft. Ich hatte mich mit dem Rücken
gegen einen Pfosten gelehnt und schnappte nach Luft
wie ein Fisch auf dem Sande.
Ich weiß nicht, was für Gedanken der Stier
über diese ergreifende Scene sich gemacht haben mag,
nach meinem Geschmack war sie nicht; aber ich mußte
den Gefühlsorkan austoben lassen und durfte eigent-
lich noch froh sein, daß Fräulein Liebgern es nicht
zur Erhöhung des Reizes der Situation für not-
wendig erachtete, in Ohnmacht zu fallen.
Als ich nach eingetretener Sülle die unterbrochene
Tour wieder aufnehmen ivollte, ergab sich eine neue
Schwierigkeit: die Dame erklärte, viel zu nervös zu
sein, um die schmale Planke zu betreten.
Daß dieses Surrogat einer Brücke vertrauen-
erweckend ausgesehen hätte, kann ich allerdings nicht
behaupten, das Ufer, ans dem wir standen, war gnt
einen halben Meter höher als das gegenüberliegende,
die Lage der Planke also eine bedenklich schräge;
feucht und schlüpfrig war sie auch, ein Geländer
nicht vorhanden, und bei einer Länge von sieben
oder acht Meter hatte das Brett eine starke Neigung,
ins Schwanken zu geraten.
Es blieb uns aber keine andere Wahl, und um
meiner Begleiterin die Gefahrlosigkeit des Ueberganges
zu demonstrieren, machte ich ein paar Schritte dem
anderen Ufer zu.
„Mein lieber, lieber Herr, bitte, bitte, vertrauen

Sie Ihr kostbares Leben nicht diesem Brette an. Sie
werden in den Fluß fallen und ertrinken, und was
soll daun aus mir werden?" rief sie mir nach.
„Ach was! Die Planke ist sicher genug. Sie
müssen nur langsam und gleichmäßig schreiten. Kom-
men Sie, lassen Sie mich Ihnen helfen. Hier,
nehmen Sie meine Hand."
Sie machte zaghaft ein paar Schritte. Die Planke
bog sich unter unserem vereinten Gewicht, und sie
kehrte, ihren Halt wieder fahren lassend, ans Ufer
zurück.
„So ist's unmöglich. Ich muß seitwärts schreiten."
„Wie Sie wollen," stimmte ich bei, und Hand
in Hand fingen wir wieder an, uns in nicht sehr-
graziöser Haltung über das Brett zu schieben. Die
Hälfte des kritischen Weges war zurückgelegt, und
ich wollte mir schon zu der glücklichen Ueberwindung
der, wie ich zuversichtlich hoffte, letzten Schwierigkeit
aus dieser unseligen Irrfahrt gratulieren, als der
verwünschte Stier uns ein wcithinschallendes Ab-
schiedsgcbrüll nachsandte. Fräulein Liebgern stieß
einen Schrei aus uud schrak heftig zusammen. Die
Erschütterung übertrug sich auf mich. Unsere Hände
trennten sich. Ich fing an zu schwanken - - rutschte —
schwankte nach vorne — versuchte krampfhaft wieder
ins Gleichgewicht zu kommen — that zu viel des
Guten und — fiel rückwärts kopfüber von der Planke
hinab. Halb geblendet und erstickt durch das plötz-
liche Untertauchen, kam ich prustend und sprudelnd
wieder an die Oberfläche, fühlte Boden nntcr
den Füßen und bemühte mich, aufrecht zu stchcu.
— Da! — Eine Vision durcheinander wirbelnder
Gliedmaßen, der Flug eines schweren Körpers durch
die Luft und ein Zusammenstoß, der mir die Er-
scheinung zahlloser Sternbilder vor die Augen zau-
berte. Die Falten verschiedener Gewänder hüllten
mich ein, zwei Hände wühlten sich unsanft in meinen
Haarschopf, ich wurde gewaltsam nochmals unter-
getaucht, und Fräulein Liebgern und ich lagen eng
umschlungen auf dem Grund des Flusses. Die Tiefe
war glücklicherweise keine große, und ich in wenigen
Sekunden wieder auf den Beinen. Fräulein Lieb-
gern hatte nicht losgelassen, und ich brachte sie rasch
an das ersehnte, so schwer erkämpfte Ufer.
Auf fester Erde angelangt gab sie mich endlich
frei, uud mit einem verklärten Lächeln ins Gras
sinkend, murmelte sie: „Dem Himmel sei Dank, ich
habe Sie errettet!"
„Was haben Sie?" schrie ich, ganz rabiat durch
den Schmerz in meiner Kopfhaut.
„Ihr Leben gerettet," wiederholte sie pathetisch.
„Ich sah Sie dem Ertrinken nahe und stürzte mich
Ihnen nach. Hätte ich Sie nicht bei den Haaren
erfaßt, dann wären Sie gesunken, und — ohhh!"
Sprachlos starrte ich die triefende Najade an
und legte mir im stillen die Frage vor, wer von uns
beiden eigentlich verrückt sei; sie oder ich. Mit halb-
geschlossenen Augen, immer noch selig vor sich hin-
lächelud, lag sie da. Die Situation war romantisch,
behaglich war sie nicht, und ich brach den Zauber
mit der prosaischen Bemerkung, daß wir uns bei
längerem Verweilen den Schnupfen holen würden.
Langsam schlug sie die Augen auf, warf mir
einen schwärmerischen Blick zu und hauchte: „Es
war herrlich, aber ich — ich sterbe."
Ihr Kopf sank kraftlos zur Seite.
Daß mir dieser Sachlage gegenüber einige un-
parlamentarische Ausdrücke entschlüpften, ist begreif-
lich. Ich griff instinktiv nach der Stelle, wo meine
Rocktasche und in dieser meine Feldflasche hätte sein
sollen. Rock und Tascheninhalt befand sich aber-
leider noch im Gewahrsam des Stieres, und mit
Cognac konnte ich daher nicht helfen. Es blieb mir
also nichts übrig, als meine vorgebliche Lebensretterin
nach einem gut zweihundert Schritte entfernten, in
Bäumen und Büschen halb versteckten Pächterhause
zu tragen und dort um Beistand zu bitten.
Wenn in einem Roman der Held die Heldin
zärtlich auf seine Arme hebt und mit ihr einen
Marsch antritt, den der Romanschreiber unter Um-
ständen auf eine halbe Stunde auszudehnen nicht
den mindesten Anstand nimmt, dann scheint dem
Helden ein solches Exercitinm gar keine Schwierig-
keiten zu verursachen, im Gegenteil, es macht ihm
das in der Regel noch ein ganz besonderes Vergnügen.
Nun, ich gönne jedem Helden seine Freude von
Herzen, kann aber versichern, daß ich in meinem
Falle von einem Vergnügen nichts verspürte und
bei der Durchführung der mir gestellten Ausgabe
ans recht erhebliche Schwierigkeiten stieß.
Meinen ersten Versuchen setzte die Ohnmächtige
eine beharrliche, sehr störende Neigung zum Zu-
sammenklappen entgegen. Schließlich lud ich mir die
Jungfrau in der Weise aus, daß Kops und Arme
über meiner linken Schulter baumelten. Eine ge-
eignete Modellgruppe für einen poetisch veranlagten
Bildhauer dürsten wir nicht abgegeben haben.
Ich setzte mich mit meiner süßen, aber erschreck-

lich schweren Bürde nach dem Pächterhanse zu in
Trab. Aus dem Trabe verfiel ich bald in Schritt,
dieser wurde langsamer und langsamer — unsicher —
schwankend, und nach Ueberwindung der halben
Distanz hatte ich gerade noch Kraft genug, meine Last
sanft niederznlegen. In diesem Moment öffnete sich die
Gartenpforte des Gehöftes, und eine ältliche, freund-
lich aussehende Frau erschien ans der Scene. Ich
ries sie an, sie wandte sich uns zu, erkannte die
Situation und kam heran.
Merkwürdig! — gerade jetzt fing Fräulein Lieb-
gern an, Lebenszeichen von sich zn geben. Sie öffnete
die Augen, schloß sie wieder, und rief wie noch halb
geistesabwesend aus: „Wo bin ich?— Wo ist er?"
„Kommen Sie, kommen Sie nur, meine Liebe,"
sprach ihr die Alte freundlich zu. „Seien Sie un-
besorgt; der Herr ist geborgen."
Fräulein Liebgern ließ sich beruhigen, richtete sich
halb auf und rieb sich die Augen. Ihre neue Freundin
nahm sie bei der Hand, half ihr auf die Füße und
sagte: „So, jetzt laufen wir geschwind nach Hanse.
Sie könnten sich den Tod holen in diesen nassen
Kleidern."
Wir nahmen Fräulein Liebgern in die Mitte,
und auf dem Wege erstattete ich der Helferin in der
Not einen kurzen Bericht über das Vorgefallene.
An Ort und Stelle angelangt, verschwand die
würdige Hausfrau zunächst mit ihrer Pflegebefohlenen
in den oberen Regionen des Hauses, kehrte aber bald
wieder mit einem vollständigen Anzuge ihres znr
Zeit abwesenden Mannes zurück und forderte mich
ans, am Kücheufcuer Toilette zu machen. In zehn
Minuten war ich in Pächter Haberkorns Sonntags-
gewänder gehüllt, mit einer Weste, deren unterster
Knopf bis zur Mitte meiner Schenkel reichte, und mit
einem Nocke, der einen bequemen Reisemantel für
mich abgegeben haben würde. So angethan trat ich
ins Freie und brachte in Erfahrung, daß die gute
alte Seele bereits einen Knecht ansgesandt hatte, um
von dem Stier, mit dem besagter Knecht ans einem
erträglichen Vcrkehrscommeut stand, meinen Rock zu
reklamieren. Als dieser gebracht wurde, nahm Fran
Habcrkorn ihn in Empfang, nm einige sehr notwendige
Reparaturen daran vorzunehmcn; ich zündete die
glücklicherweise unversehrt gebliebene Pfeife an und
suchte bei ihr Trost für ansgestandene Leiden.
Als ich endlich ins Hans znrückkehrte, um mich
nach dem Befinden meiner Schicksalsgefährtin zn er-
kundigen, kam mir unsere Gastsreundin mit einem
Ausdruck von Verständuisiunigkeit im Gesicht und
mit mütterlicher Teilnahme entgegen, schob mich in
die gute Stube, in der ein lustiges Feuer im Ofen
brannte, machte die Thür hinter mir zu und ließ
mich mit Fräulein Licbgern allein. Das Kostüm,
das sie angelegt hatte, war nicht gerade geeignet,
den Reiz ihrer Erscheinung zn erhöhen, da indes
auch mein Aeußeres zn wünschen übrig ließ, enthielt
ich mich kritischer Bemerkungen. Wir stärkten uns
an einem aufgetragenen Imbiß, und unter dem wohl-
thnenden Einfluß der von außen und innen ange-
wandten Wärme fand ich rasch meinen Humor so
weit wieder, daß ich Fräuleiu Liebgern in scherzhaft
ironisch gemeinter Weise meinen Dank für die gute
Absicht aussprach, mit der sie mir ins Wasser gefolgt
war. Sie acceptierte die Komplimente, die ich ihr
über die bewiesene Geistesgegenwart machte, beschei-
den, aber offenbar im besten Glauben.
„Ich habe schon oft gewünscht," sagte sie, „es
möchte mir einmal Gelegenheit geboten werden, mich
für andere in Gefahr zn stürzen. — Freilich für
;edcn würde ich es nicht gethan haben."
„Es ist mir sehr schmeichelhaft, daß ich mich zu
den Bevorzugten zählen darf," entgegnete ich ver-
bindlich.
„O! das ist ganz etwas anderes," lispelte sie.
„Ihnen habe ich mein Leben zu verdanken. Aber
auch ohne das würde ich alles gethan haben — für
Sie. — Glauben Sie nicht an seelischen Magnetis-
mus? Sind Sie nie einer verwandten Seele begegnet
und haben Sie nie zu einer solchen so innig sich
hingezogen gefühlt, daß Sie für sie zu jeder Auf-
opferung fähig gewesen wären? Ein ödes Leben
liegt hinter mir. Wie habe ich mich nach wahrem
Verständnis gesehnt und doch immer nur kalte Miß-
achtung und Zurückweisung erfahren!"
„Sie sehen zn schwarz, Fräulein Liebgern," fiel
ich ein. „Es giebt doch gewiß auch Menschen, die
Ihnen Sympathie entgegenbringen."
„Menschen!" rief sie verächtlich. „Nicht um die
Sympathie der Masse ist's mir zu thun. Ich sehne
mich nach einem — nur nach einem Herzen, das
mit dem meinen im gleichen Schlage pulsiert; nach
einem Ohr, dem ich meine Bestrebungen, meine
Hoffnungen anvertrauen kann; nach einer Seele, die
aus dem eigenen Ueberfluß heraus mir das zu geben
bereit ist, was mir noch fehlt; nach einem starken
Arme, auf den ich mich stützen kann, wenn die Welt
mich fallen lassen will."
 
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