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Erfolg des Winterfchen Briefes. Darum setzte ich
alle Vorsicht beiseite und fuhr hierher.
Was sich daun seit meiner Ankunft in Breslau
ereignet hat, ist Ihnen ja wahrscheinlich bereits be-
kannt. Ich kam durch einen wunderbaren Zufall
eben zurecht, uni deu Verkauf des Schrankes mit der
Leiche meines Schwagers an einen Händler zu ver-
hüten, indem ich seine Offerte überbot, aber ich hatte
mich zu früh zu diesem gelungenen Coup beglück-
wünscht. Die zehntausend Mark, die ich dem Rechts-
anwalt Schröder übergeben, hatten mich ja schon ver-
raten, noch ehe mich mein toter Schwager erschlug. Und
da ich ohnedies fest entschlossen war, eine Entdeckung
und Verurteilung nicht zu überleben, so betrachte ich den
Umsturz des Schrankes am Ende mehr als ein glück-
liches, denn als ein unglückliches Ungefähr. Man
wird in dem von mir gemieteten Tresorfach zu Berlin
bei weitem den größten Teil der gestohlenen Summe
finden, denn ich habe für meine eigene Person in-
zwischen kaum mehr als einige hundert Mark ver-
braucht — und ich bin bescheiden genug, nicht ein-
mal um ein anständiges Begräbnis aus Kosten der
Glückaufgesellschast zu bitten."
Nicht in fließendem Zusammenhänge hatte George
Miller seinen Bericht vorbringen können, und es hatte
sich hie und da schon recht deutlich fühlbar gemacht,
daß der Erzähler ein Sterbender war. Aber er
hatte mit schier übermenschlicher Energie immer
wieder, wenn eine beängstigende Unterbrechung ein-
trat, seine ganze Kraft znsammengerafft, um deu
bedrohlichen Schwächeanfall zu überwinden, und
immer wieder war es ihm gelungen.
Mit vollkommen klarer Besinnung konnte er
auch noch die Verlesung des umfangreichen Proto-
kolls anhören und konnte mit fester Hand seinen
Namen unter das Schriftstück setzen. Dann aber
folgte der unnatürlichen seelischen Anspannung die un-
ausbleibliche Reaktion, und der Untersuchungsrichter
hatte keine Möglichkeit mehr, ein Wort des Abschieds
an ihn zu richten, da George Miller schon wieder
in tiefer Bewußtlosigkeit lag, als er ihn verließ.
Der Tag war noch nicht zu Ende, als Martha
Winter im Amtszimmer des Untersuchungsrichters
die Mitteilung von ihrer Freilassung empfing.
„Wir alle, mein verehrtes Fräulein, sind nut
Blindheit geschlagen gewesen," sagte der alte Herr
in seinem herzlichsten und liebenswürdigsten Tone,
„und da wir trotz unserer Erfahrungen und unseres
vermeintlichen Kriminalistenscharssinns samt und
sonders doch nur irrende Menschenkinder sind, dürfen
Sie darum nicht zu strenge mit uns ins Gericht
gehen. Vieles hat leider der Zufall, der diesmal
die Rolle der rächenden Nemesis übernommen hat,
zu Ihrer Rechtfertigung tun müssen; vieles aber
haben Sie auch Ihrem Herrn Verteidiger zu danken,
der Ihre Sache mit solcher Wärme und mit einer
so unerschütterlichen Überzeugung von Ihrer Schuld-
losigkeit geführt hat, daß er Ihnen schließlich wohl
auch ohne das Eingreifen des Schicksals zu der ver-
dienten Genugtuung verhalfen hätte."
Martha erfuhr aus dem Munde des Richters
alles, was sich an diesem so ereignisreichen Tage
zugetragen. Und wenn auch die Nachricht von der
Auffindung ihres toten Bruders sie in innerster
Seele erschütterte, so war es doch nur natürlich
und menschlich, wenn eine Empfindung innigen
Dankes gegen die Vorsehung die überwiegende in
ihrem Herzen blieb. Sie hatte ja längst die Hoff-
nung aufgcgeben, den Verschwundenen lebend wieder
zu sehen. Und daß er nicht, wie sie gefürchtet hatte,
das Opfer eines Mordbuben geworden, sondern eines
sanften natürlichen Todes gestorben war, mußte ihr
unter den obwaltenden Umständen schon wie ein
Trost erscheinen.
Die Formalitäten ihrer Entlassung aus der Unter-
suchungshaft waren rasch erledigt, und ungewiß,
wohin sie zunächst ihre Schritte lenken sollte, trat
Martha aus den Gang vor dem Amtszimmer hin-
aus. Da hörte sie von einer tiefen, wohltönenden
Männerstimme halblaut ihren Namen nennen, rind
sie bemühte sich nicht, ihm ihre Empfindungen zu
verbergen, als sie Hermann Schröder in über-
strömendem Dankgefühl ihre beiden Hände entgegen-
streckte.
„Wie gut von Ihnen, daß Sie gekommen sind!
Und wie soll ich Ihnen je vergelten, was Sie für
mich getan!"
„Es war leider wenig genug, Fräulein Winter!
Denn das Schwerste vermochte ich Ihnen ja leider
nicht zn ersparen."
„Das Schwerste — Sie meinen den Tod meines
armen Bruders —"
„Auch das! Doch eigentlich war es etwas an-
deres, woran ich dachte. Sie wissen vielleicht noch
gar nicht, daß George Miller nicht mehr unter den
Lebenden weilt. Er ist vor einer Stunde im Aller-
heiligenhospital seinen Verletzungen erlegen."

Er hatte es zögernd und beklommen gesagt, wie
jemand, der sich nur schwer entschließt, eine nieder-
schmetternde Neuigkeit vorzubringeu.
Martha aber sah ihm verwundert in das ernste
Gesicht. „Und das sollte das Schwerste für mich
sein, Herr Rechtsanwalt — schwerer als selbst die
Gewißheit von meines Bruders Tod? Gewiß hege
ich den tiefsten Abscheu gegen diesen Elenden, dem
ich so viele bittere Leidensstunden verdanke, und vor
dem mich schon bei der ersten Begegnung eine innere
Stimme gewarnt hat. Aber mein Haß ist nicht so
rachsüchtig, daß es mich betrüben sollte, ihn seinem
irdischen Richter entzogen zu sehen. Ich denke, die
Strafe, die er erlitten hat, wäre ohnedies fast schwerer
als sein Vergehen."
Hermann Schröder glaubte seinen Ohren nicht
trauen zu dürfen, und so freudig regte sich aufs
neue die schon begrabene Hoffnung in seinem Herzen,
daß es ihm in der beglückenden Aufwallung des
Augenblicks ziemlich ungeschickt entfuhr: „Auch das
war also nur Lüge und Betrug? Sie hatten ihm
keine Rechte über sich eingeräumt? Sie haben ihn
nicht geliebt?"
„Ich — jenen Mann? Und das — das konnten
Sie von mir glauben? — Sie konnten es glauben,
und doch haben Sie meine Verteidigung über-
nommen?"
Ihre Entgegnung war nicht weniger verräterisch
gewesen als seine Frage. Und da sich in diesem
Moment ihre Augen begegneten, wußten sie beide
mit einem unsäglichen Glücksgefühl, woran sie mit-
einander waren. Aber es war weder Zeit noch
Ort für eine feurige Liebeserklärung oder für
einen Erguß überschwenglicher Zärtlichkeit. Ein
langer, inniger Händedruck mußte die Stelle des-
gesprochenen Wortes vertreten; und seine stumme
Spräche sagte ihnen verständlich genug, daß es
fortan keine Irrungen mehr zwischen ihnen geben
würde, und daß sie untrennbar zueinander gehörten
bis an den Tod.
Drei Tage später fand unter außerordentlicher
Teilnahme der weitesten Bevölkerungskreise das

feierliche Begräbnis des verstorbenen Rendanten
statt. Die Sektion hatte als unzweifelhaft ergeben,
daß er in der Tat an einem Herzschlag verstorben
war, und jeder, der ihm heute seine Handvoll Erde
nachwarf auf den Sarg, bat ihm wohl zugleich in
der Stille des Herzens das schwere Unrecht ab, das
er dem redlichen, mitten in seiner rastlosen Arbeit
dahin gerafften Manne mit Worten oder Gedanken
angetan.
Die Gattin des Verstorbenen war wegen ihres
leidenden Zustandes diesem Leichenbegängnisse ebenso
fern geblieben, wie jener anderen ungleich stilleren
Beerdigung, die fast um dieselbe Zeit von der
Leichenhalle des Allerheiligenhospitals aus stattfand
und die einem armen Sünder zu seiner letzten, ewigen
Ruhe verhalf. Aber dieser leidende Zustand hinderte
sie nicht, Breslau schon am nächsten Tage ans
Nimmerwiederkehr zu verlassen.
Die Glückaufgesellschaft hatte ihr „in besonderer
Anerkennung der treuen Dienste ihres Mannes" eine
sehr ansehnliche Witwenpension bewilligt, und über-
dies war ihr das beschlagnahmte Privatvermögen
des Rendanten fast vollständig ausgefolgt worden,
da Martha Winter sich unter Zustimmung ihres
Verlobten, des Rechtsanwalts Hermann Schröder,
ausdrücklich geweigert hatte, von dem Nachlasse ihres
Bruders mehr anzunehmen als einige kleine persön-
liche Andenken und als die Summe, die sie ihm zu
seinen Lebzeiten zur Aufbewahrung und Verwaltung
übergeben. Eine nochmalige Begegnung zwischen
den beiden Frauen hatte nicht stattgefunden, und ein
in herzlichem, versöhnlichem Tone gehaltener Brief,
den Martha ihrer Schwägerin sandte, wurde niemals
beantwortet. —
Auf dem Grabe des Buchhalters Joseph Bartel
in der Selbstmörderecke des Gefangenenkirchhofes aber
gibt ein einfacher Denkstein, den nach Jahresfrist
Hermann Schröder auf den Hügel des Unglücklichen
legen ließ, durch seine kurze Inschrift Kunde von
dem Mitleid, mit dem-der vielgesuchte Anwalt und
seine glückliche Gattin des armen „Zigeuners" ge-
denken, der seine Sehnsucht nach Macht und Reich-
tum so teuer hatte bezahlen müssen.

Vari Clverüaak §Mckatt.
komcin von ^olflsmcir Urban.

Cllle; llcipitel.
in Omnibus fuhr von der London-City nach
M-E Whitechapelroad, und auf feinem Dache saß
unter anderen ein älterer freundlicher Gentle-
man, der mit seinem Nachbar gemütlich
plauderte.
„Sehen Sie, Mister Burns," sagte er gesprächig,
„das ist in einer großen Stadt wie London einmal
so. Da steht zum Beispiel das Gebäude der Bank
von England," — sie fuhren in diesem Augenblick
daran vorbei — „gut! Alle Welt weiß, daß in
diesem Gebäude der größte GeldHanfen anfbewahrt
wird, den es auf dieser Erde gibt, uud trotzdem
wohnen kaum zehn Minuten von hier Leute, die
sich nicht satt essen können. Mein lieber Mister
Burns, ich brauche Ihnen wohl nicht erst zu sagen,
eine wie schlimme Sache es ist, wenn ein Mensch
gar nichts besitzt. Was soll er machen? Soll er
Schulden machen, nm zu leben? Du lieber Gott,
wer soll ihm denn etwas borgen? Schulden, obgleich
sie eigentlich noch weniger als gar nichts sind, zeigen
doch immerhin, daß andere Leute noch Interesse an
dem Betreffenden haben. Aber wenn einer nicht
einmal Schulden hat, mein werter Mister Burns, so
kann er sich begraben lassen. Denn was kann er
sonst noch tun?"
„Er kann ja arbeiten, Sir!"
Der ältere freundliche Gentleman schmunzelte
ironisch und fuhr dann fort: „Er kann arbeiten,
sagen Sie, Mister Burns? Ei, ja freilich, er muß
arbeiten. Er muß, sage ich, sonst verhungert er.
Sehen Sie, da war ich am letzten Sonntag in der
Paulskirche und kam gerade dazu, wie man einem
Fremden seine Brieftasche mit über hundert Pfund
gestohlen hatte. In der Paulskirche! Und doch sind
wir alle Christen. Wollen Sie etwa leugnen, daß
wir Christen sind, Sir? In der guten alten Zeit,
als England noch England war, wurden alle Spitz-
buben gehängt. Und das war gut. Jetzt, Gott
fei's geklagt, sperrt man sie ein — notabene wenn
mail sie erwischt — und füttert sie auf Staats-
kosten. - - England verfällt! Ich sage Ihnen, mein
lieber Mister Burns, mit England geht es bergab. —
Was? Sind wir schon an der Surrey-Street? -—-

iUackicimck vsrbolsn.)
Kutscher, halt! Halt! Ich muß absteigeu. He! Hören
Sie nicht, Kutscher? Wollen Sie mich eine Fuß-
reise um die Welt machen lassen? Halt, sage ich."
Der alte Herr kletterte gemächlich hinunter, und
der „Bns" fuhr mit Mister Burns allein weiter,
hinein in den nebligen Dunst der allmählich in die
Nacht dämmernden Riesenstadt. Da und dort
wurden schon die Laternen angesteckt, und der junge,
kaum vierundzwanzigjährige Mister Burns saß
sinnend und etwas zusammengeduckt, mit zarten,
sympathischen, aber etwas bleichen Zügen, die Augen
klug lind beobachtend, aber schüchtern und zurück-
haltend auf das tolle Gewirrs der Straßen gerichtet.
Manchmal schien es dem jungen, etwas träumerisch
und kritisch-nachdenklich veranlagten Mann, als ob
der Straßendunst und der mißfarbige Nebel, der
alles wie ein schmutziger Schleier überzog, sich ver-
dichtete, uud dann hinter dem Schleier allerhand
häßliche Fratzen und Gespenster erschienen, oder als
ob hinter der behäbig-lächelnden, äußerlich wohl-
genährte«, scheinheiligen spießbürgerlichen Welt ein
Völker und Menschen bedrohendes Monstrum von
Herzlosigkeit und Egoismus lauere. „Das ist in
einer großen Stadt wie London einmal so," hatte
der ältere freundliche Gentleman gesagt, und der
junge, schüchterne und nachdenkliche Mister Burns
seufzte und sagte auch: „Das ist einmal so!"
Jedenfalls war Mister Burns sehr vorsichtig in
seinen Hoffnungen, uud er hätte vielleicht auf diesen
eigentümlichen Luxus des menschlichen Gemütes in-
mitten der Welt von London ganz verzichtet, wenn
er eben nicht noch gar so jung, so innerlich und
herzlich weich gewesen wäre. So beschränkten sich
seine bescheidenen Hoffnungen auf ein auskömmliches
Gehalt, von dem er und seine Mutter leben konnten,
und wenn ihn dann Gott liebte, so bescherte er ihm
eine Stellung mit zeh'n oder doch acht Pfund pro
Monat, damit er seine Anny heiraten konnte. Jetzt
hatte er nur fünf Pfund — er war Clerk in einer
Buchhandlung am Strand — was notdürftig für
ihn und seine Mutter reichte. Anny war für ihn
vorläufig noch ein geheimer Wunsch, eine Fata Mor-
gan«, ein Zauberbild der Zukunft, das er nur in
feinen kühnsten Träumen in sein Leben verwob.
 
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