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515

er nichts; aber er war traurig darüber, wie imr
Kinder in ihrer unausgesprochenen Hilflosigkeit cs
sein können. .
Eines Tages aber erhörte der Himmel seine
heimlichen Predigten und Gebete. Der Tag von
Mannes Rechtfertigung brach an.
Ruth hatte zu Helmut
den Wunsch geäußert, Wei-
denkätzchen selber pflücken
zn gehen. Helmut war na-
türlich gleich dabei; die
schönsten Weiden standen
draußen am See, niedrige
Sträucher, an die sie gut
heranreichen konnten.
„Fräulein hat's ja ver-
boten," sagte Ruth, „aber
die merkt's nicht, wenn wir
jetzt gehen; jetzt stopft sie
Strümpfe — sagt sie — ich
glaube aber, sie schläft.
Also komm, Helmut. Und
leise, daß Männe nichts
merkt."
Männe hatte aber alles
gemerkt und jedes Wort ge-
hört. Und jetzt sagte er
ganz gelassen: „Seid ruhig,
ich gehe mit."
„Du, Männe? Warum
denn? Wir dürfen ja nicht "
„Draußen am See sind
viel zu viele böse Jungen,
da könnt ihr nicht alleine
hingehen."
„Na," sagte Helmut
patzig, „ich geh' doch mit
Ruth!"
Das Ende vom Liede
war aber, daß Karlmann
wirklich sein Mützchen auf-
setzte und mitging.
Zwischen Ruth und Hel-
mut wanderte er einher,
nie gewöhnlich still, den
Kopf gesenkt, in sehr wenig
militärischer Haltung. Hel-
mut ging stramm, die Händ-
chen in den Taschen seines
Mäntelchens, den frischen
Kopf fast hintenüber ge-
worfen.
Am See liefen Prome-
naden- und Reitwege ent-
lang, doch um diese Zeit,
am frühen Nachmittag, wa-
ren sic menschenleer. Nur
Rotten von Kindern spielten
an dem flachen Ufer, war-
fen Steinchen über die blaue
Fläche oder lärmten umher.
Ruth hatte ein Taschen-
mcsserchen mitgenommen.
Das holte sie jetzt hervor
und sprang auf ein Wei-
dengebüsch zu, das wunder-
volle Kätzchen bis unten
herunter anfwies.
„Hier können wir schnei-
den!" rief sie. „Die sind
fein! Ich nehme den Zweig
hier!"
Ein vierschrötiger Junge
von vielleicht zwölf Jahren
trat heran. „Jeh weg hier,
du Kröte! Hier haste nischt
zu suchen."
Erschrocken starrte Ruth
zu dem Jungen hinauf, der
dicht auf sie zutrat und die
Hände aus den Taschen
nahm.
„Das ist doch nicht dein
Baum," sagte sie immer-
hin keck; doch griff sie nach
einem anderen Zweig.
„Laß det sind!" rief der
Große, „mach, daß de weiterkommst, oder 't jibt
wat 'raus!"
Dabei stieß er klein Helmut, der sich dreist vor
Ruth gestellt hatte, fort. Und jetzt, da Ruth trotzig
den Zweig in der H"ud behielt, griff er nach ihren
Schultern, zerrte sie zurück und riß an ihren flattern-
den Haaren, daß sie laut anfschrie.
Im Nu sprang Karlmann herzu. Er war mehr
als einen Kopf kleiner als der andere, aber das
schreckte ihn nicht. Blaß, die sonst so träumerischen
Augen blitzend, die Zähne fest zusammengebissen.

stürzte er sich aus den großen Gegner. Er schlug
mit beiden Fäusten aus ihn los, blindlings, wohin
er traf, und schrie nur Ruth zu: „Lauf nach Haus!
Du auch, Helmut! Schnell!"
Sofort rannten jetzt andere Kinder herbei. Ein
allgemeines Geheul erhob sich — zehn Hände streck-

ten sich nach Karlmann aus. Ruth verlor nicht die
Besinnung. Vor Entsetzen stolpernd jagte sie, Helmut
mit sich reißend, auf die Promenade zu. Sie wollte
Hilfe herbeiholen.
Männe, der tapfere, kleine Männe, ließ seinen
Gegner nicht los. Er hatte die Hände um dessen
Hals gekrampft, schlug mit den Füßen aus, biß um
sich, ward aber von der erbarmungslosen Überzahl
bald bewältigt.
„In 'n See! Schmeißt 'n in 'n See!" schrieen
die Kinder.

Das war ein Gedanke! Herrlich! In den See
mit dem frechen Bürschchen!
Und sogleich, von derben Fäusten gefaßt, ward
der schon jammervoll zerschlagene Karlmann nach
der Dampferbrücke geschleppt.
Er wehrte sich, immer noch wütend nnd ver-
zweifelt — umsonst, sie rissen
ihn weiter — noch ein paar
Fuß breit — so! Und alles
Sträubens ungeachtet flog
klein Männe in den See.
In diesem Augenblick
galoppierte von der Pro-
menade her ein Reiter heran
— es war der Hauptmann
v. Blichens, den Ruth auf
dem großen Reitweg ent-
deckt nnd schreiend herange-
winkt hatte. Bei seinem
Nahen stob die johlende
Kinderschar auseinander.
Der Hauptmann sprang
vom Pferde nnd mit einem
Satz in das am Ufer noch
flache Wasser hinein, er-
faßte Männe und riß ihn
empor an seine Brust
Gott sei Dank, der Junge
lebte noch! — Aber jetzt
sank sein Köpfchen hinten-
über, die Augen schlossen sich
— eine tiefe Ohnmacht
stellte sich ein.
Der Hauptmann galop-
pierte mit seiner kleinen
nassen Last nach Hause.
Ruth und Helmut sehr still
und sehr schnell hinterdrein.
Sie fühlten sich recht be-
klommen. Schließlich waren
sie doch schuld an dem gan-
zen Unglück.
Mit Männe stand es
schlecht. Er lag in seinem
weißen Bettchen, und die
Glieder flogen ihm im
Schüttelfrost.
Der Arzt zog die Augen-
brauen hoch; das konnte ein
einfaches Erkältungsfleber,
es konnte auch schlimmer
werden.
Ruth und Helmut hatten
dem Vater haarklein be-
richtet, wie alles zngegangen,
und wie Männe sich ganz
nnd gar als ein Held be-
währt hatte.
Dem Hauptmann schivoll
das Herz in Stolz und Leid.
Er hatte seinem Ältesten
also unrecht getan, es steckte
doch ein Kern von Mut in
ihm!
Männes Fieberphanta-
sien waren für den Vater
eine Offenbarung nnd eine
Qual. Denn er wieder-
holte darin wieder nnd wie-
der das Schlußgebet seiner
Predigten: „Lieber Gott, dn
wollest mich recht stark und
wild machen, damit mich
Papa ein bißchen lieb hat."
Die Tränen stürzten dem
Hauptmann aus den Augen.
„Mein armer Junge, ich
hab' dich ja lieb! Hörst dn
mich, ich hab' dich ja lieb!"
Und diese dringende
Stimme vernahm manchmal
das kranke Bübchen, und
dann brach ein Strahl un-
beschreiblicher Freude über
das bleiche Gesichtchen her-
ein. —
Am neunten Tage starb
Männe. Er schlief ganz ruhig ein, seine abgezehrte,
kleine Hand in der des Vaters, ohne Kampf, ohne
klares Bewußtsein. Aber vielleicht hatte er doch die
Liebkosungen gefühlt, die ihm in diesen Krankheits-
tagen zu teil geworden, und nach denen er sich sein
Leben lang so demütig gesehnt hatte. Denn alle,
die ihn sahen, wie er in seinem kleinen Sarge lag,
meinten, sie Hütten nie zuvor auf einem toten Antlitz
einen solchen strahlenden Ausdruck von Zufrieden-
heit gesehen.

Ans lllagenitärkung. llcicli einem Semälcle von 8ugo lloückemeiter.
 
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