572 ^ss-
Wieder flog sein Blick blitzschnell zu Edith. Der
Ausdruck ihres Gesichtes war plötzlich anders ge-
worden. Ihre dunklen Augen, weit geöffnet, waren
mit einer erwartenden Spannung auf ihn gerichtet,
und es lag etwas in ihnen, was ein Befehl, eine
Drohung und eine Bitte zugleich war.
Er atmete schwer auf. „Wenn ich irgendwie
kann — ja," antwortete er nach einer kleinen Panse.
Frau Driesen zuckte die Schultern und schwieg.
Nun hatte sie mit ihm nichts mehr zu sprechen, nun
konnte er gehen. Er machte seine Verbeugung und
sagte adieu. Frau Friederike nickte verabschiedend.
Edith aber sprang plötzlich empor und hielt Heyde-
mann die Hand hin. „Auf Wiedersehen, Herr Heyde-
mann!" sagte sie mit einem Lächeln, das ihm mehr
als mit Worten zu verstehen gab, wie sehr sie mit
ihm einverstanden sei.
Er fühlte den Druck der kleinen, zarten Hand,
er empfand den warmen Strahl der dunklen Augen,
und eine warme Welle strömte ihm vom Herzen
durch den ganzen Körper.
Als er sich auf der Straße befand, betrachtete
er die Stelle, die die Hand Ediths berührt hatte.
Es war doch sonderbar, daß sie noch genau so aus-
sah wie sonst. Und doch empfand er da etwas ...
etwas, was er noch nie vorher gefühlt hatte.
Heydemann saß im Mitarbeiterzimmer an seinen:
Pult uud schrieb. Es ging ihm etwas langsam und
schwer von der Hand, schwerer als in den vorher-
gegangenen Tagen. Er war müde und übernächtig.
Er hatte in den letzten zwei Tagen ziemlich viel
gearbeitet, mehr als allen seinen bisherigen Ge-
wohnheiten entsprach. Redakteur Schultze hatte rasch
entdeckt, daß der neue Mitarbeiter nicht nur ein
intelligenter und gebildeter Mann war, sondern auch
ein Mensch, der von Natur eine besondere Befähi-
gung zum Journalismus besaß und sich dabei mit
der Feder gut und gewandt auszudrücken vermochte.
Und Heydemann machte an sich selbst die gleiche
Entdeckung. Er wunderte sich darüber, wie rasch
und leicht er sich in die neuen Verhältnisse hinein-
fand, wie er spielend und nur nach kurzer Über-
legung alle die Schwierigkeiten überwand, die sich dem
Anfänger im Zeitungswesen so oft entgegenstellen.
Auch seine Sprachkenntnisse kamen ihm zu Hilfe, und
so fand er bald mehr Beschäftigung, als er in den
ersten Tagen der zaghaften Versuche in seinen kühn-
sten Illusionen zu hoffen gewagt hatte. Nur war
mit der Arbeit an der Zeitung sein Tagewerk nicht
getan. Wenn er am Abend die Redaktion verließ,
begann für ihn eine neue und anstrengendere Tätig-
keit. Da mußte das Manuskript von Frau Driesen
umgeschrieben oder eigentlich ganz neu geschrieben
und gewissermaßen umkomponiert werden — eine
Arbeit, die sehr spät in die Nacht hinein dauerte
und ihm nur wenig Zeit zum Schlaf und zur Ruhe
übrig ließ
So saß er müde und abgespannt an seinem
Pult und reihte langsam und bedächtig Wort an
Wort, als die Tür aufging und Bohne wie ein
Gewittersturm auf ihn zucilte.
„Na, Heydemännchen, wie geht's, wie steht's?"
begann er. „Wohl und munter, ja? Und wie
immer fleißig. Sie sind ja in wenigen Tagen hier
eine Nummer geworden — höre ich Na, wissen
Sie das Neueste? Ich habe Krüger kennen gelernt!
Und wissen Sie, was er macht?"
Heydemann zuckte die Achselu.
„Na, Sie brauchen nicht so gleichgültig zu tun,
lieber Heydemann. Der gute Krüger ist gerade da-
bei, sich eine schöne Fabrik einzurichten."
„Wie?" fragte Heydemann, von seinem Sitze auf-
springend.
„Na, sehen Sie wohl!" rief Bohne triumphierend.
„Ich wußte ja, daß es Sie interessieren wird. Eine
große Fabrik, ja. Und er hat keinen Teilhaber. Ich
habe die Räumlichkeiten gesehen und auch die funkel-
uagelneuen Maschinen, die er hineingestellt hat. Ich
rede ihm vor, daß er bei dem Olympiazirkus, der
jetzt gebaut wird — ich schreibe ja alle Notizen
darüber — durch mich die elektrischen Installationen
erhalten wird. Nun, und so sind wir sehr gute
Freunde."
„Aber es kommt dabei nicht viel heraus," meinte
Heydemann trübe.
„Warten Sie es ab, warten Sie es ab, lieber
Heydemann," sagte Bohne überlegen. „Wissen Sie,
der Mann ist eine Bestie, eine wahre Bestie. Wenn
man mit ihm spricht, möchte man ihn für den ehr-
lichsten Menschen halten. Aber er hat es dick hinter
den Ohren. Er kann sich beherrschen. Ich bin über-
zeugt, daß er, und nur er allein das Geld genommen
hat."
„Ach, ich habe keine Überzeugungen mehr!" sagte
Heydemann bitter.
„Aber ich!" rief Bohne. „Überlegen Sie einmal.
Der Mann hat keinen Pfennig Vermögen, kündigt
aber seine Stellung und geht hin, eine Fabrik auf-
zumacheu. Aus seinen zukünftigen Schwiegervater
ist er schlecht zu sprechen, er schimpft auf ihn uud
nennt ihn nur den „alten Knicker". Von ihm hat
er also das Geld nicht. Aber er hat Geld . . .
Woher? Und Pläne — Pläne, sage ich Ihnen!
Na — und noch eines. Ich habe gestern die Frage
vom Diebstahl angeschnitten. Ich sprach so von
seinem künftigen Schwiegervater, vom „Roten
Löwen", und dann nannte ich auch den Namen
Heydemann. Da hätten Sie ihn nur sehen sollen!
Er wird blaß, er wird rot, er wird unruhig und
ich sage ganz harmlos: „Eine unangenehme Ge-
schichte. Die Polizei hat Ihnen wohl schon Um-
stände gemacht und wird Sie wohl belästigen." Und
da sagt er: „Glauben Sie? Das wäre mir sehr
unangenehm." Na, natürlich. Uud dann wurde er
ganz still, sah mich immer so von der Seite an
wie ein Mensch mit schlechtem Gewissen und ver-
abschiedete sich ganz plötzlich. Es wurde ihm mit
einem Male zu heiß. Glaub' ich wohl. Und ich
zweifle gar nicht — er ist einer der größten Gauner."
Heydemann versank in Gedanken. Halb hoffte
er, halb zweifelte er. So blickte er dumpf vor sich
hin und schwieg.
Bohne legte dieses Schweigen für eine Art hoff-
nungsloser Verzweiflung aus. Er klopfte Heyde-
maun ans die Schulter und sagte tröstend: „Ich
werde es schon machen! Ich kriege ihn, ich fange
ihn! — Ja ... richtig! Nun was anderes. Sehen
wir uns bei Frau Driesen? Ich bin durch Beutler
zu Tisch geladen. Soll eine sehr interessante Dame
sein. Was?"
„O ja —" begnügte sich Heydemann zu antworten.
„Ich werde Sie also dort finden?"
„Ja."
„Na — dann auf Wiedersehen!"
Bohne verschwand, und Heydemann versuchte
weiter zu arbeiten. Aber es ging nicht gut. Bohne
hatte ihn unruhig gemacht. Und nun war er durch-
aus nicht in der Stimmung für eine große Gesell-
schaft. Er hatte damals bei der Verabredung der
Frau Friederike mit Beutler gar nicht daran gedacht,
daß er dabei sein würde. Aber sie hatte ihm durch
seine Zimmerwirtin sagen lassen, daß sie ihn zu
Tische erwarte, und er fühlte nicht den Mut, ihre
Einladung, die eigentlich mehr eine Aufforderung
war, abzulehnen. —
Als er etwas später nach der festgesetzten Stunde
im Speisezimmer der Frau Driesen erschien, war
die Unterhaltung bereits voll im Gange. Man hatte
ihn offenbar nicht vermißt. Nur sein Gedeck wartete
seiner. Er versuchte, seine Verspätung zu entschul-
digen, aber er bemerkte sogleich, daß man sie nicht
übel nahm.
Heute war Bohne die Hauptperson. Er hatte
sich sein und elegant heransgemacht, war in tadel-
loser Salontoilette erschienen und sah wirklich gut
aus. Als Heydemaun kam, hielt Bohue eben einen
Vortrag über die Polizei.
„Ach, meine Damen, Sie wissen gar nicht, wie
dumm die Leute sind," sprach er, während er weiter
aß. „Sie sind immer auf der Spur, aber findeu
— ist nicht. Höchstens nur, wenn unsereiner hilft.
Ja, dann . . . Und ich sage Ihnen, vor mir — ja,
da zittern sie alle. Sie zittern nur so, wenn ich
mal komme. Sie wissen's genau, ich sehe ihnen
scharf auf die Finger."
„Sie beschäftigen sich also viel mit Polizeisachen?"
fragte Frau Driesen neugierig.
„I wo," meinte Bohne, „nur so nebenbei, wenn
es mir gerade Spaß macht. Ich mache alles, alles,
was die Redaktionen brauchen: Politik, Literatur,
Theater, Tagesneuigkeiten, Börse —"
Heydemann sah den Sprecher verwundert au.
Dieser Mensch log ja. Er war weiter nichts als
Lokalreporter und berichtete auch über Versamm-
lungen—und alles, wie Heydemann es jetzt wußte,
in einem schlechten, rohen Stil, dessen Einrenkung
dem Redakteur viel zu schaffen machte.
Frau Friederike aber sah zu Bohne bewundernd
empor. „Dann sind Sie ja ein Universalgenie,"
meinte sie mit aufrichtiger Verehrung.
(Fortsetzung folgt.)
Ocis XIV. Osutlcks kuliäCslckishLii in
kcumopsr.
(Lieks <lis 5 Mlcksr auk Leits S7Z.)
Lünen großartigen Verlaus hat das XIV. Deutsche Bun-
desschießen in Hannover genommen, das am 5. Juli mit
einem prächtigen Festzug eingeleitet wurde. Es nahmen
an demselben rund 8000 Personen, gegen 30 Musik-
kapellen und 20 Festwagen teil, und der Vorbeimarsch
dauerte anderthalb Stunden. Dis erste Hauptgruppe
umfaßte den Wagen des Bund esbann ers, die Vor-
staiidschaft uud die Ausschüsse des Deutschen Schützen-
bundes, die Deputationen der früheren Fcststädte und
die auswärtigen Schützen (Österreich-Ungarn, Schweiz,
Belgien, Italien, Nordamerika). Die ziveite Hauptgruppe
führte den nach Hunderttausenden zählenden Zuschauern
ältere Waffenübungen und sportliche Vergnügungen vor
Augen. Man sah Heinrich den Löwen mit Rittern und
Bogenschützen, Kriegsknechte mit Spießen und Fackeln,
den Wagen des Dohrener Turmes, der ein Vorkommnis
aus der Geschichte Hannovers darstellte, bei dein 7 Bürger
in der Verteidigung der Stadt den Flammentod starben;
den prächtig und künstlerisch ausgestatteten Rosenmontags-
wagen und ein Schützenfest aus dein 16. Jahrhundert,
sowie einen höchst malerischen Jagdzug aus dem
17. Jahrhundert (Meute, Pikeure, Jäger und Reiter),
der von der königlichen Militärreitschule dargestellt wurde.
Den Abschluß machten die Schützen aus Brandenburg,
Pommern, Ost- und Westpreußen, Schlesien, Westfalen
uud Mecklenburg. Die dritte Hauptgruppe stellte die
Stadt Hannover dar. Hinter der Musik kau: zunächst
der Wagen der Gärtner, besetzt mit blumenstreuenden
Kindern, umgeben von Gärtnern und Gärtnerinnen im
Rokokokostüm; dann kam der W a g en d er Hann o vera
mit Vorreitern, Bürgerwehr von 1848, und die Fest-
wagen der technischen und tierärztlichen Hochschule mit
Ausschußmitgliedern und Bannern, zum Schluß das
Baugewerkamt, der Festwagen der Innungen und die
Schützen aus den Rheinlanden, Elsaß-Lothringen, Baden,
der Pfalz und Württemberg. Die vierte Hauptgruppe
stellte die neueren, die fünfte die neuesten Sports dar:
Sänger, Fechter, Turner, Bergsteiger, Ruderer u. s. w.
In diesen Gruppen gingen die Schützen aus Bayern,
Mitteldeutschland, Thüringen und Nordwestdeutschland.
Vor dem alten historischen Rathause überreichte Stadt-
rat Lehmann aus Dresden das Bundesbanner dein
Magistrat von Hannover. In der großen, reich aus-
geschmückten Festhalle, die im niedersächsischen Stile
erbaut war und eine Länge von 92 Meter hatte, sand
dann ein Bankett statt, zu dem 2S00 Personen einge-
laden waren. 5 Uhr Nachmittags begann das Schießen,
und auf dem Festplatze entwickelte sich ein ungemein
lebhaftes, bewegtes Treiben. Besonders umdrängt wurde
der 20 Meter hohe Gabentempel, in dem die SSO Preise
aufgestellt waren, darunter Kunstwerke ersten Ranges,
und zahllose Schaubuden, Bierzelte, Erfrischungsstättcn
aller Art hatten dem herbeigestrvmten Publikum ihre gast-
lichen Pforten geöffnet.
Dis Xciilsrin-Mtws von Cliinci ciuk äsin
Vcilinliok in psking.
(Lislie MIü auk Lsits 57b.)
L'eit der Niederschlagung des Boxeraufstandes in China
2 durch die fremden Mächte machen sich dort Zeichen
des Fortschritts auf allen Gebieten bemerklich. Beson-
ders der Bahnbau schreitet rüstig vorwärts. Man er-
sieht dies deutlich an einigen Zahlen. Im Jahre 1900
hatte das über 11 Millionen Quadratkilometer große
Reich nicht mehr als 470 Kilometer Eisenbahnen, seit-
dem sind Tausende hinzugekommen. Die Eisenbahnlinien
Chinas sind vorläufig noch in den Händen von aus-
ländischen Unternehmergruppen. Besondere Schwierig-
keiten macht diesen bei den Eisenbahnbauten die Um-
gehung der zahlreichen zerstreut liegenden Gräber, die
als heilige Orte nicht zerstört werden dürfen. Denn der
Gräber- und Ahnenkultus wird von allen Chinesen eifrig
gepflegt, und selbst für den Hof und die Kaiserin-Witwe,
die mächtige Beherrscherin des Reiches, besteht die Pflicht,
zu bestimmten Zeiten zu den Gräbern der Ahnen zu
wallfahrten. Interessant ist es, daß im April 1903 die
Kaiserin-Witwe beim Besuch der „westlichen Gräber"
zum ersten Male statt der bisher üblichen Sänfte die
Lunan-Eisenbahn benutzte Unser Bild zeigt uns die
Kaiserin auf dem Bahnhofe in Peking oder vielmehr
vor Peking, denn noch ist es nicht gestattet worden,
die Eisenbahn bis in die Stadt zu führen. Die alte
Frau ist eben aus ihrem Salonwagen gestiegen und
dankt auf dem Bahnsteig dem Direktorder Eisenbahnlinie,
Brouillard, persönlich für die Umsicht und Sorgfalt, die
er bei Beförderung des Hofes bewiesen hat. Dieses Bild,
auf dem die Kaiserin-Witwe umgeben von ihrem Hof-
staat erscheint, gewinnt noch an Interesse durch den Ge-
danken daran, daß dieselbe Dame im Jahre 1898 ihrem
schwachen Neffen, dem Kaiser Kuang-ßü, die Zügel der
Regierung entriß, weil er zu freundlich gegen die
Fremden, zu empfänglich für Reformen war; daß sie
es war, die im Jahre 1900 einzelne Gouverneure
und Generäle bestrafte, weil sie gegen die fremdenfeind-
lichen Boxer vorgegangen waren, und daß sie es war,
die zwei angesehene Mitglieder des obersten Staats-
rates, des Tsunglijamens, hinrichten ließ, weil diese es
gewagt hatten, im Interesse ihres Landes auf die Ge-
fährlichkeit der Voxerbegünstigung hinzuweisen. Und
nun sieht man diese fremden- und reformfeindliche
Herrscherin nach Benutzung eines modernen Verkehrs-
mittels in freundlicher Unterhaltung mit einem dieser
verhaßten Fremden! Wahrlich ein Bild von hervor-
ragendem kulturgeschichtlichem Wert! Bei dieser Wand-
lung der Dinge gewinnt auch die jüngst als Gerücht
aufgetauchte Nachricht an Wahrscheinlichkeit, daß die
Kaiserin-Witwe den Damen des diplomatischen Korps
gestattet hat, bei dem nächsten Empfang ihre photo-
graphischen Apparate mitzubringen, damit sie von den
bisher gegen alle Fremden abgeschlossenen Räumen des
Palastes Aufnahmen machen könnten.
Wieder flog sein Blick blitzschnell zu Edith. Der
Ausdruck ihres Gesichtes war plötzlich anders ge-
worden. Ihre dunklen Augen, weit geöffnet, waren
mit einer erwartenden Spannung auf ihn gerichtet,
und es lag etwas in ihnen, was ein Befehl, eine
Drohung und eine Bitte zugleich war.
Er atmete schwer auf. „Wenn ich irgendwie
kann — ja," antwortete er nach einer kleinen Panse.
Frau Driesen zuckte die Schultern und schwieg.
Nun hatte sie mit ihm nichts mehr zu sprechen, nun
konnte er gehen. Er machte seine Verbeugung und
sagte adieu. Frau Friederike nickte verabschiedend.
Edith aber sprang plötzlich empor und hielt Heyde-
mann die Hand hin. „Auf Wiedersehen, Herr Heyde-
mann!" sagte sie mit einem Lächeln, das ihm mehr
als mit Worten zu verstehen gab, wie sehr sie mit
ihm einverstanden sei.
Er fühlte den Druck der kleinen, zarten Hand,
er empfand den warmen Strahl der dunklen Augen,
und eine warme Welle strömte ihm vom Herzen
durch den ganzen Körper.
Als er sich auf der Straße befand, betrachtete
er die Stelle, die die Hand Ediths berührt hatte.
Es war doch sonderbar, daß sie noch genau so aus-
sah wie sonst. Und doch empfand er da etwas ...
etwas, was er noch nie vorher gefühlt hatte.
Heydemann saß im Mitarbeiterzimmer an seinen:
Pult uud schrieb. Es ging ihm etwas langsam und
schwer von der Hand, schwerer als in den vorher-
gegangenen Tagen. Er war müde und übernächtig.
Er hatte in den letzten zwei Tagen ziemlich viel
gearbeitet, mehr als allen seinen bisherigen Ge-
wohnheiten entsprach. Redakteur Schultze hatte rasch
entdeckt, daß der neue Mitarbeiter nicht nur ein
intelligenter und gebildeter Mann war, sondern auch
ein Mensch, der von Natur eine besondere Befähi-
gung zum Journalismus besaß und sich dabei mit
der Feder gut und gewandt auszudrücken vermochte.
Und Heydemann machte an sich selbst die gleiche
Entdeckung. Er wunderte sich darüber, wie rasch
und leicht er sich in die neuen Verhältnisse hinein-
fand, wie er spielend und nur nach kurzer Über-
legung alle die Schwierigkeiten überwand, die sich dem
Anfänger im Zeitungswesen so oft entgegenstellen.
Auch seine Sprachkenntnisse kamen ihm zu Hilfe, und
so fand er bald mehr Beschäftigung, als er in den
ersten Tagen der zaghaften Versuche in seinen kühn-
sten Illusionen zu hoffen gewagt hatte. Nur war
mit der Arbeit an der Zeitung sein Tagewerk nicht
getan. Wenn er am Abend die Redaktion verließ,
begann für ihn eine neue und anstrengendere Tätig-
keit. Da mußte das Manuskript von Frau Driesen
umgeschrieben oder eigentlich ganz neu geschrieben
und gewissermaßen umkomponiert werden — eine
Arbeit, die sehr spät in die Nacht hinein dauerte
und ihm nur wenig Zeit zum Schlaf und zur Ruhe
übrig ließ
So saß er müde und abgespannt an seinem
Pult und reihte langsam und bedächtig Wort an
Wort, als die Tür aufging und Bohne wie ein
Gewittersturm auf ihn zucilte.
„Na, Heydemännchen, wie geht's, wie steht's?"
begann er. „Wohl und munter, ja? Und wie
immer fleißig. Sie sind ja in wenigen Tagen hier
eine Nummer geworden — höre ich Na, wissen
Sie das Neueste? Ich habe Krüger kennen gelernt!
Und wissen Sie, was er macht?"
Heydemann zuckte die Achselu.
„Na, Sie brauchen nicht so gleichgültig zu tun,
lieber Heydemann. Der gute Krüger ist gerade da-
bei, sich eine schöne Fabrik einzurichten."
„Wie?" fragte Heydemann, von seinem Sitze auf-
springend.
„Na, sehen Sie wohl!" rief Bohne triumphierend.
„Ich wußte ja, daß es Sie interessieren wird. Eine
große Fabrik, ja. Und er hat keinen Teilhaber. Ich
habe die Räumlichkeiten gesehen und auch die funkel-
uagelneuen Maschinen, die er hineingestellt hat. Ich
rede ihm vor, daß er bei dem Olympiazirkus, der
jetzt gebaut wird — ich schreibe ja alle Notizen
darüber — durch mich die elektrischen Installationen
erhalten wird. Nun, und so sind wir sehr gute
Freunde."
„Aber es kommt dabei nicht viel heraus," meinte
Heydemann trübe.
„Warten Sie es ab, warten Sie es ab, lieber
Heydemann," sagte Bohne überlegen. „Wissen Sie,
der Mann ist eine Bestie, eine wahre Bestie. Wenn
man mit ihm spricht, möchte man ihn für den ehr-
lichsten Menschen halten. Aber er hat es dick hinter
den Ohren. Er kann sich beherrschen. Ich bin über-
zeugt, daß er, und nur er allein das Geld genommen
hat."
„Ach, ich habe keine Überzeugungen mehr!" sagte
Heydemann bitter.
„Aber ich!" rief Bohne. „Überlegen Sie einmal.
Der Mann hat keinen Pfennig Vermögen, kündigt
aber seine Stellung und geht hin, eine Fabrik auf-
zumacheu. Aus seinen zukünftigen Schwiegervater
ist er schlecht zu sprechen, er schimpft auf ihn uud
nennt ihn nur den „alten Knicker". Von ihm hat
er also das Geld nicht. Aber er hat Geld . . .
Woher? Und Pläne — Pläne, sage ich Ihnen!
Na — und noch eines. Ich habe gestern die Frage
vom Diebstahl angeschnitten. Ich sprach so von
seinem künftigen Schwiegervater, vom „Roten
Löwen", und dann nannte ich auch den Namen
Heydemann. Da hätten Sie ihn nur sehen sollen!
Er wird blaß, er wird rot, er wird unruhig und
ich sage ganz harmlos: „Eine unangenehme Ge-
schichte. Die Polizei hat Ihnen wohl schon Um-
stände gemacht und wird Sie wohl belästigen." Und
da sagt er: „Glauben Sie? Das wäre mir sehr
unangenehm." Na, natürlich. Uud dann wurde er
ganz still, sah mich immer so von der Seite an
wie ein Mensch mit schlechtem Gewissen und ver-
abschiedete sich ganz plötzlich. Es wurde ihm mit
einem Male zu heiß. Glaub' ich wohl. Und ich
zweifle gar nicht — er ist einer der größten Gauner."
Heydemann versank in Gedanken. Halb hoffte
er, halb zweifelte er. So blickte er dumpf vor sich
hin und schwieg.
Bohne legte dieses Schweigen für eine Art hoff-
nungsloser Verzweiflung aus. Er klopfte Heyde-
maun ans die Schulter und sagte tröstend: „Ich
werde es schon machen! Ich kriege ihn, ich fange
ihn! — Ja ... richtig! Nun was anderes. Sehen
wir uns bei Frau Driesen? Ich bin durch Beutler
zu Tisch geladen. Soll eine sehr interessante Dame
sein. Was?"
„O ja —" begnügte sich Heydemann zu antworten.
„Ich werde Sie also dort finden?"
„Ja."
„Na — dann auf Wiedersehen!"
Bohne verschwand, und Heydemann versuchte
weiter zu arbeiten. Aber es ging nicht gut. Bohne
hatte ihn unruhig gemacht. Und nun war er durch-
aus nicht in der Stimmung für eine große Gesell-
schaft. Er hatte damals bei der Verabredung der
Frau Friederike mit Beutler gar nicht daran gedacht,
daß er dabei sein würde. Aber sie hatte ihm durch
seine Zimmerwirtin sagen lassen, daß sie ihn zu
Tische erwarte, und er fühlte nicht den Mut, ihre
Einladung, die eigentlich mehr eine Aufforderung
war, abzulehnen. —
Als er etwas später nach der festgesetzten Stunde
im Speisezimmer der Frau Driesen erschien, war
die Unterhaltung bereits voll im Gange. Man hatte
ihn offenbar nicht vermißt. Nur sein Gedeck wartete
seiner. Er versuchte, seine Verspätung zu entschul-
digen, aber er bemerkte sogleich, daß man sie nicht
übel nahm.
Heute war Bohne die Hauptperson. Er hatte
sich sein und elegant heransgemacht, war in tadel-
loser Salontoilette erschienen und sah wirklich gut
aus. Als Heydemaun kam, hielt Bohue eben einen
Vortrag über die Polizei.
„Ach, meine Damen, Sie wissen gar nicht, wie
dumm die Leute sind," sprach er, während er weiter
aß. „Sie sind immer auf der Spur, aber findeu
— ist nicht. Höchstens nur, wenn unsereiner hilft.
Ja, dann . . . Und ich sage Ihnen, vor mir — ja,
da zittern sie alle. Sie zittern nur so, wenn ich
mal komme. Sie wissen's genau, ich sehe ihnen
scharf auf die Finger."
„Sie beschäftigen sich also viel mit Polizeisachen?"
fragte Frau Driesen neugierig.
„I wo," meinte Bohne, „nur so nebenbei, wenn
es mir gerade Spaß macht. Ich mache alles, alles,
was die Redaktionen brauchen: Politik, Literatur,
Theater, Tagesneuigkeiten, Börse —"
Heydemann sah den Sprecher verwundert au.
Dieser Mensch log ja. Er war weiter nichts als
Lokalreporter und berichtete auch über Versamm-
lungen—und alles, wie Heydemann es jetzt wußte,
in einem schlechten, rohen Stil, dessen Einrenkung
dem Redakteur viel zu schaffen machte.
Frau Friederike aber sah zu Bohne bewundernd
empor. „Dann sind Sie ja ein Universalgenie,"
meinte sie mit aufrichtiger Verehrung.
(Fortsetzung folgt.)
Ocis XIV. Osutlcks kuliäCslckishLii in
kcumopsr.
(Lieks <lis 5 Mlcksr auk Leits S7Z.)
Lünen großartigen Verlaus hat das XIV. Deutsche Bun-
desschießen in Hannover genommen, das am 5. Juli mit
einem prächtigen Festzug eingeleitet wurde. Es nahmen
an demselben rund 8000 Personen, gegen 30 Musik-
kapellen und 20 Festwagen teil, und der Vorbeimarsch
dauerte anderthalb Stunden. Dis erste Hauptgruppe
umfaßte den Wagen des Bund esbann ers, die Vor-
staiidschaft uud die Ausschüsse des Deutschen Schützen-
bundes, die Deputationen der früheren Fcststädte und
die auswärtigen Schützen (Österreich-Ungarn, Schweiz,
Belgien, Italien, Nordamerika). Die ziveite Hauptgruppe
führte den nach Hunderttausenden zählenden Zuschauern
ältere Waffenübungen und sportliche Vergnügungen vor
Augen. Man sah Heinrich den Löwen mit Rittern und
Bogenschützen, Kriegsknechte mit Spießen und Fackeln,
den Wagen des Dohrener Turmes, der ein Vorkommnis
aus der Geschichte Hannovers darstellte, bei dein 7 Bürger
in der Verteidigung der Stadt den Flammentod starben;
den prächtig und künstlerisch ausgestatteten Rosenmontags-
wagen und ein Schützenfest aus dein 16. Jahrhundert,
sowie einen höchst malerischen Jagdzug aus dem
17. Jahrhundert (Meute, Pikeure, Jäger und Reiter),
der von der königlichen Militärreitschule dargestellt wurde.
Den Abschluß machten die Schützen aus Brandenburg,
Pommern, Ost- und Westpreußen, Schlesien, Westfalen
uud Mecklenburg. Die dritte Hauptgruppe stellte die
Stadt Hannover dar. Hinter der Musik kau: zunächst
der Wagen der Gärtner, besetzt mit blumenstreuenden
Kindern, umgeben von Gärtnern und Gärtnerinnen im
Rokokokostüm; dann kam der W a g en d er Hann o vera
mit Vorreitern, Bürgerwehr von 1848, und die Fest-
wagen der technischen und tierärztlichen Hochschule mit
Ausschußmitgliedern und Bannern, zum Schluß das
Baugewerkamt, der Festwagen der Innungen und die
Schützen aus den Rheinlanden, Elsaß-Lothringen, Baden,
der Pfalz und Württemberg. Die vierte Hauptgruppe
stellte die neueren, die fünfte die neuesten Sports dar:
Sänger, Fechter, Turner, Bergsteiger, Ruderer u. s. w.
In diesen Gruppen gingen die Schützen aus Bayern,
Mitteldeutschland, Thüringen und Nordwestdeutschland.
Vor dem alten historischen Rathause überreichte Stadt-
rat Lehmann aus Dresden das Bundesbanner dein
Magistrat von Hannover. In der großen, reich aus-
geschmückten Festhalle, die im niedersächsischen Stile
erbaut war und eine Länge von 92 Meter hatte, sand
dann ein Bankett statt, zu dem 2S00 Personen einge-
laden waren. 5 Uhr Nachmittags begann das Schießen,
und auf dem Festplatze entwickelte sich ein ungemein
lebhaftes, bewegtes Treiben. Besonders umdrängt wurde
der 20 Meter hohe Gabentempel, in dem die SSO Preise
aufgestellt waren, darunter Kunstwerke ersten Ranges,
und zahllose Schaubuden, Bierzelte, Erfrischungsstättcn
aller Art hatten dem herbeigestrvmten Publikum ihre gast-
lichen Pforten geöffnet.
Dis Xciilsrin-Mtws von Cliinci ciuk äsin
Vcilinliok in psking.
(Lislie MIü auk Lsits 57b.)
L'eit der Niederschlagung des Boxeraufstandes in China
2 durch die fremden Mächte machen sich dort Zeichen
des Fortschritts auf allen Gebieten bemerklich. Beson-
ders der Bahnbau schreitet rüstig vorwärts. Man er-
sieht dies deutlich an einigen Zahlen. Im Jahre 1900
hatte das über 11 Millionen Quadratkilometer große
Reich nicht mehr als 470 Kilometer Eisenbahnen, seit-
dem sind Tausende hinzugekommen. Die Eisenbahnlinien
Chinas sind vorläufig noch in den Händen von aus-
ländischen Unternehmergruppen. Besondere Schwierig-
keiten macht diesen bei den Eisenbahnbauten die Um-
gehung der zahlreichen zerstreut liegenden Gräber, die
als heilige Orte nicht zerstört werden dürfen. Denn der
Gräber- und Ahnenkultus wird von allen Chinesen eifrig
gepflegt, und selbst für den Hof und die Kaiserin-Witwe,
die mächtige Beherrscherin des Reiches, besteht die Pflicht,
zu bestimmten Zeiten zu den Gräbern der Ahnen zu
wallfahrten. Interessant ist es, daß im April 1903 die
Kaiserin-Witwe beim Besuch der „westlichen Gräber"
zum ersten Male statt der bisher üblichen Sänfte die
Lunan-Eisenbahn benutzte Unser Bild zeigt uns die
Kaiserin auf dem Bahnhofe in Peking oder vielmehr
vor Peking, denn noch ist es nicht gestattet worden,
die Eisenbahn bis in die Stadt zu führen. Die alte
Frau ist eben aus ihrem Salonwagen gestiegen und
dankt auf dem Bahnsteig dem Direktorder Eisenbahnlinie,
Brouillard, persönlich für die Umsicht und Sorgfalt, die
er bei Beförderung des Hofes bewiesen hat. Dieses Bild,
auf dem die Kaiserin-Witwe umgeben von ihrem Hof-
staat erscheint, gewinnt noch an Interesse durch den Ge-
danken daran, daß dieselbe Dame im Jahre 1898 ihrem
schwachen Neffen, dem Kaiser Kuang-ßü, die Zügel der
Regierung entriß, weil er zu freundlich gegen die
Fremden, zu empfänglich für Reformen war; daß sie
es war, die im Jahre 1900 einzelne Gouverneure
und Generäle bestrafte, weil sie gegen die fremdenfeind-
lichen Boxer vorgegangen waren, und daß sie es war,
die zwei angesehene Mitglieder des obersten Staats-
rates, des Tsunglijamens, hinrichten ließ, weil diese es
gewagt hatten, im Interesse ihres Landes auf die Ge-
fährlichkeit der Voxerbegünstigung hinzuweisen. Und
nun sieht man diese fremden- und reformfeindliche
Herrscherin nach Benutzung eines modernen Verkehrs-
mittels in freundlicher Unterhaltung mit einem dieser
verhaßten Fremden! Wahrlich ein Bild von hervor-
ragendem kulturgeschichtlichem Wert! Bei dieser Wand-
lung der Dinge gewinnt auch die jüngst als Gerücht
aufgetauchte Nachricht an Wahrscheinlichkeit, daß die
Kaiserin-Witwe den Damen des diplomatischen Korps
gestattet hat, bei dem nächsten Empfang ihre photo-
graphischen Apparate mitzubringen, damit sie von den
bisher gegen alle Fremden abgeschlossenen Räumen des
Palastes Aufnahmen machen könnten.