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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 48.1913

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Heft 1
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V38 Such fül- Mle ____l. --- -Mt 1

diesen Erwägungen heraus. „Wir wollen's auch
ganz gewiß nicht wieder tun."
„Bis zum nächsten Mal — was?" rief lachend der
junge Offizier. „Na, nun heult nur nicht! Ich will
euch nicht verraten."
„Laß man sein, Mäxchen," spendete nun auch
Karsten seinen Trost, indem er das tränennasse Ge-
sichtchen mit seiner rauhen Tatze abwischte. „Wir
nageln einen alten Futtersack über die Kiste. Dann
merkt der Herr Baron nischt. Und wenn er nach
der Satteldecke fragt, sag' ich ihm, die Ratten hätten
sie gefressen."
Die von ihrer Sorge befreiten Jungen sprangen
jubelnd davon, Hans schwang sich geschickt auf den
Querbaum und kitzelte das geduldige Wagenpferd
mit einem Strohhalm hinter den Ohren. Dabei
ahmte Mäxchen das Summen einer Biene täuschend
nach.
„Daß ihr das nicht bei meinem Fuchs probiert!"
drohte Oertzin. „Der ist nervös und schlägt aus."
„Ich pass' schon auf, Herr Leutnant," bemerkte
Karsten grinsend.
„Das möcht' ich Ihnen auch geraten haben!"
Oertzin verließ den Stall. Die Hellen Stimmen
der Kinder, ihr jubelndes Lachen, Karstens dröhnen-
der Baß klangen ihm nach, als er über den gepflaster-
ten Hof auf das weiß angestrichene Haus mit den
grünen Läden zuschritt.
Die rote Kapuzinerkresse, die an den Fenstern
emporkletterte, schaukelte ihre langen Ranken in
dem warmen Sommerwinde.
Oertzin wußte schon, daß die Veranda meist
offenzustehen pflegte. Er vermied deshalb gern
das Warten an der Haustür und ging hinten herum
durch den Garten, der still und leer in der Sonnen-
glut dalag.
Die Glasveranda, zu der eine Steintreppe etwas
steil hinaufführte, stand voll blühender Pflanzen.
In der offenen Tür, gerade über der Veranda,
schaukelte eine aus Draht geflochtene Ampel voll
lang herabhängender Schlinggewächse und rot leuch-
tender Geranien. Durch die Glasscheiben sah man
in den Salon, der trotz der niedrigen Decke, der
gestrichenen Dielen und schmalen Fenster ein Bild
traulicher Behaglichkeit bot. Reich-geschnitzte alte
Truhen, Familienbilder, eingelegte Rokokokommo-
den, zierlich geschweifte Möbel aus Roseuholz schu-
fen ein reizvolles und doch harmonisches Durch-
einander. Die Sachen stammten alle aus Oertzins
Elternhaus und waren von seiner Schwester ge-
schmackvoll ihrer Einrichtung eingefügt worden.
Durch die vielen Erinnerungen, die sich damit ver-
knüpften, heimelten sie Leo immer vertraut und
zugleich etwas wehmütig an.
Er hatte der Schwester bei der Auflösung seines
Elternhauses alle diese Bilder und Möbel über-
lassen, denn ihm wären sie in seiner engen Jung-
gesellenwohnung ja nur eine Last gewesen.
„Heilung!"
Die junge Frau, die, der Tür den Rücken wen-
dend, in einem großblumigen Sessel lehnte, fuhr
erschrocken zusammen. Ein schmales, von dunklen,
welligen Scheiteln umrahmtes Gesicht mit fast über-
großen, verträumten, lichtbraunen Augen sah eine
Sekunde fassungslos erstaunt den Bruder an.
Als sie ihn erkannte, veränderte sich der Aus-
druck blitzschnell. „Du bist's, Leo? Wie reizend!
Auf deinen Besuch rechnete ich bei dieser Hitze nicht.
Da, setz dich zu mir. Draußen ist's noch zu schwül,
obwohl die Zimmer im Sommer immer etwas
melancholisch sind."
„Dieses nicht." Mit befriedigtem Blick sah Leo
sich um. Vor den Fenstern wehten die blaßgelben,
mit roten Mohnranken durchschossenen Musselin-
gardinen leise hin und her. Das Sonnenlicht von
draußen, durch die grünen Läden gedämpft, über-
zitterte das Zimmer mit zart abgetöntem, goldigem
Schein. In den hohen Kristallvasen schwankten
lange grüne Taunenzweige, mit Hellem Buchen-
laub vermischt. In einer perlmutterschillernden
Glasschale duftete ein großer Strauß Heliotrop.
Der starke, süße Vanillegeruch durchzog den ganzen
Raum.
„Schön hast du's hier bei dir, Heilwig — stim-
mungsvoll, obgleich das Parchower Wohnhaus im
übrigen ziemlich banal ist," meinte Leo.
Heilwig nickte. „Ja, die lieben alten Sachen
aus Rosenhagen machen's gemütlich. Und mit
meinen Blumen treibe ich einen wahren Kultus.
Da sieh mal den Feldblumenstrauß!" Sie deutete
auf eine dunkelblaue Tonvase, aus der feine Zitter-
gräser, grellroter Mohn, graziöse weiße Winden
herauswuchsen. „Ist das nicht ein Gedicht von
heißen Erntetagen und stillseligen Sommernächten,
in denen die Sonne den Mohn so rot und die Sterne
die Winden so blaß küßten?"
„Schwärmerin! Ich glaube wirklich, Heilwig,
du kümmerst dich mehr um deine Blumen als um

deine Kinder. Die Jungens toben im Stall herum
wie Wilde, haben sich unglaublich eingeschmutzt und
allerhand Unfug angestellt."
Ein Schatten ging über Heilwigs Gesicht. „Das
tun sie immer. Verbieten hilft nichts, sie gehorchen
mir ja doch nicht."
„Du müßtest dich mehr mit ihnen beschäftigen,
Heilwig."
Die junge Frau schüttelte mutlos den Kopf.
„Die Kinder langweilen sich bei mir. Alles hab'
ich schon versucht, um sie zu unterhalten, vorgelesen
hab' ich ihnen, Bilder gezeigt, erzählt — immer
hieß es: Mutter, das ist langweilig, können wir
nicht in den Stall gehen zu Karsten?' Erlaube ich
das nicht, dann werden sie so ungezogen, daß ich
sie schließlich selbst hinausschicke."
„Damit haben sie freilich erreicht, was sie wollen!"
„Natürlich. Was soll ich aber machen? Mit
Mäxchen allein werd' ich fertig, aber die zwei ver-
eint sind mir zu stark."
„Wie soll denn das aber werden? Karsten ist
ein gutmütiger, treuer Mensch, aber ob seine Päda-
gogik stark ausgebildet ist, möchte ich bezweifeln."
„Ich auch. Mir ist es überhaupt schrecklich, daß
die Kinder im Stall aufwachsen. Aber bei allem,
was ich dagegen einwende, sagt mein Mann: ,Bei
Jungens ist das nicht anders. Die kann man nicht
in Watte packen. Später werden sie im Kadetten-
korps schon wieder geradegezogen werden? Dabei
beruhigt er sich."
„Diese Massenerziehung wäre nicht mein Ge-
schmack, wenn ich Söhne hätte."
„Du — ja du wärest anders. Das glaub' ich
auch." Heilwig strich mit ihrer schmalen Hand über
das hübsche, sonnenbraune Gesicht des Bruders,
das im Schnitt der Züge dem ihren ähnelte, nur
waren seine Augen dunkler und lebhafter, nicht so
verträumt und melancholisch wie die ihren. „Warum
heiratest du nicht, Leo?"
„Weil ich arm nicht heiraten kann und nach
Geld nicht heiraten mag. Die Auswahl ist auch
nicht groß. Die Landtöchter kriegen nicht viel mit,
und die Offiziersdämchcn haben erst recht nichts.
Wäre ich Herr auf Rosenhagen, stände es anders.
Aber als armer Dragonerleutnant mit äußerst ge-
ringen Aussichten zum Vorwärtskommen sieht's mit
der Millionenheirat schlecht aus."
„Eine Millionenherrat braucht es ja nicht zu
sein," rief Heilwig lebhaft. „Aber Geld muß deine
zukünftige Frau natürlich haben, wenigstens so viel,
daß du Rosenhagen zurückkaufen könntest, oder —"
„Oder?"
„Oder sie, deine künftige Frau nämlich, müßte
selbst ein Gut besitzen."
„Danke schön. Als dummer August neben seiner
Frau, die die Herrin ist, herzulaufen, wäre nicht
mein Geschmack."
„Ich wüßte eine sehr passende Partie für dich,
Leo."
„Wie oft hast du die schon gewußt, Heilwig?"
„Diesmal ist's Erust."
„Nuu, schieß nur los. Ich darf mir wohl dazu
eiue Zigarette anstecken?"
Bitte."
„Wen hast du mir also zugedacht?"
„Dasselbe Mädchen, durch dessen Geburt du um
dem Erbe gekommen bist."
„Wer soll denn das sein?"
„Du bist sehr begriffstutzig heute, Leo. Ich
spreche natürlich von unserer Base Ines."
„Die kleine Engländerin, des alten, verdrehten
Onkels Helmut Tochter! Die muß ja noch ein Kind
sein."
„Ines ist neunzehn Jahre alt. Der Vater ließ
sie auf Wunsch seiner verstorbenen Frau ganz in
England erziehen. Erst kürzlich ist sie nach Roten-
walde zu ihm zurückgekommen."
„Hast du sie schou gesehen?"
„Nein. Onkel Helmut lebt bekanntlich wie ein
Einsiedler. Zu empörend war's von ihm, mit sechzig
Jahren noch zu heiraten und gar noch eine Tochter
zu bekommen!"
„Ich kann doch Ines nicht umbringen!"
„Nein, aber heiraten."
„Du verfügst sehr eigenmächtig über die junge
Dame. Vermutlich würde sie mich gar nicht haben
wollen."
„Nur zu gern. Der alte Onkel ist geizig, ver-
drießlich, ein Sonderling, der nie aus feinem Bau
herauskommt. In Rotenwalde soll's unglaublich
aussehen. Das arme Ding, die Ines, fühlt sich ganz
sicher bereits kreuzunglücklich. Dem Alten soll's
auch schon herzlich über sein, ein junges Mädchen
bei sich zu haben. Er fürchtet bei seinem sprich-
wörtlichen Geiz, Gäste einzuladen. Dich aber wird
er sicher mit offenen Armen empfangen."
„Na, hinüberreiten kann ich ja mal."
„Das ist lieb und verständig von dir, Leo. Dich

wieder als Herr auf einem alten Oertzinschen Gut
zu wissen, würde den Schmerz, Rosenhagen ver-
loren zu haben, aufwiegen."
„Ja, es ist hart!" gab Leo zu. „Rosenhagen
war jahrhundertelang in den Händen der Oertzins.
Keiner ist je auf den Gedanken gekommen, daß
es aus der Familie gehen könnte. Wäre unser Vater
nicht so früh gestorben, wär's auch nicht geschehen.
Aber die arme Mama war schwach und unselbständig
und hörte auf die albernen Reden unseres Vor-
mundes, daß der Verkauf vorteilhaft sei. Was kam
schließlich heraus? Gerade so viel, daß du eine Aus-
steuer und ein kleines Kapital, ich eine Zulage er-
hielten, die es mir ermöglichte, in einem billigen Ka-
vallerieregiment einzutreten. Nun, geschehen ist
geschehen, und über Unabänderliches soll man nicht
grübeln."
„Damals glaubte Mama noch an die Erbschaft
von Rotenwalde für dich, Leo."
„Auf Erbschaften soll man nie rechnen. Die
ältesten Erbonkel heiraten immer noch im letzten
Augenblick."
„Ja, mit sechzig Jahren müßte das verboten
sein. Auf der einzigen Reise, die Onkel Helmut
je unternahm, ließ er sich richtig von der schönen
Engländerin einfangen. Bitter genug mag sie's
bereut haben, denn Onkel Helmut ist der unaus-
stehlichste Mensch, den es gibt."
„Und den wünschest du mir zum Schwieger-
vater?"
„Ewig kann er doch nicht leben. Er wird im
nächsten Monat achtzig Jahre."
„Ewig nicht, aber bei seiner guten Natur wohl
noch manches Jahr. Außerdem wird's mit dem
Reichtum nicht weit her sein, wenn er Rotenwalde
aus Geiz verschlampen läßt."
„Er kann's aber weder mit Hypotheken belasten,
noch darf er es verkaufen. Rotenwalde ist Lehen,
ein Frauen- oder Kunkellehen. Die Statuten müssen
in Rotenwalde liegen. Der Onkel —"
Aber ehe Heilwig mit ihrer Lehnsauseinander-
setzung fortfahren konnte, ging draußen ein Mord-
spektakel los, der ihr das Wort abschnitt und auch
Leo überrascht aufhorchen ließ. Eine Männerstimme
schalt in nicht sehr gewählten Ausdrücken heftig.
Zwei Kinder heulten laut. Ein Hund bellte durch-
dringend.
„Jedenfalls ist Otto nach Hause gekommen,"
beantwortete Heilwig Leos fragenden Blick. „Das
gibt meist Lärm über irgend eine Unordnung. Die
Kinder weinen wahrscheinlich aus Mitgefühl, weil
ihr geliebter Karsten so angedonnert wird."
„Oder weil es entdeckt wurde, daß sie des Vaters
Satteldecke für ihre Kaninchenkiste genommen haben.
Wir wollen hingehen und das Strafgericht unter-
brechen. Mir tun die kleinen Schlingel leid, ob-
gleich sie ein paar Jagdhiebe reichlich verdient
haben."
„Laß nur. Wenn man sich einmischt, wird's
nur schlimmer. Das weiß ich aus Erfahrung," sagte
die junge Frau und legte ihre Hand auf den Arm
des Bruders. Ihre schwarzen Brauen bildeten
zusammengezogen eine dunkle Linie auf der weißen
Stirn. Das gab dem jungen Gesicht einen schwer-
mütigen Ausdruck. In den hellbraunen Augen
flackerte eine unstete Angst auf.
„Aber Heilwig!" Leo sah die Schwester erstaunt
an. „Du wirst dich doch nicht vor deinem Mann
fürchten? Ich habe Otto stets für einen grundguten,
wenn auch etwas heftigen Menschen gehalten."
Die junge Frau antwortete nicht. Mit fahrigen
Bewegungen schob sie die Blumenvafen, die auf
dem Tisch standen, durcheinander. Ein fein nach-
klingendes Geräusch der aneinander stoßenden Gläser
ging durchs Zimmer.
Draußen war's still geworden. Dann wurde
die Tür ziemlich unsanft aufgestoßen, und der Haus-
herr, Baron Otto v. Diersbrock, stand auf der
Schwelle des fonnendurchzitterten, blumendurch-
dufteten SalonS. Seine sehr große, massige Gestalt
nahm die schmale Türöffnung vollkommen ein.
Auf seinem von Staub und Schweiß bedeckten Ge-
sicht lag ein ärgerlicher Ausdruck.
„Ist das eine Wirtschaft!" brach er los. Er
hielt seinem Schwager die Hand hin, fuhr aber
trotzdem in feiner Strafrede, die eigentlich noch dem
Kutscher und den Kindern galt, aber nach der be-
liebten Art vieler Ehemänner auf das schuldlose
Haupt der Gattin niederhagelte, fort: „Ich komme
heim. Kein Mensch da, der mir das Pferd abnimmt!
Muß mir den Gaul selber in den Stall zerren.
Was sehe ich da? Der brave Karsten kniet vor der
Kaninchenkiste und tapeziert sie mit alten Säcken
aus. Daneben liegt meine gute Satteldecke zer-
rissen, verschmutzt — kaum zu glauben! Aber der
Karsten, der kann sich packen! Der läßt den Jungens
nicht nur jede Unart durch, sondern vertuscht auch
noch ihre dummen Streiche vor mir!"
 
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