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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 48.1913

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Heft 5
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https://doi.org/10.11588/diglit.47352#0109
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Illustnette fsmilienrettung
5. liest. 1913.

fi'aueni'echüennnen.
Homnn von Marggreke 6,-gsin v. Züriau.
lkortsestung.) > ---- - (Nachdruck lir.'voten.)
Muriel diktierte, davon verstand Ines
M/W ll DI nicht viel Zusammenhängendes. Es
Ml! I ///Mi schien eine Statistik zu sein, in der nach-
gewiesen wurde, in welcher Weise die
weiblichen Angestellten der großen
Kaufhäuser ausgebeutet werden. Sie war noch
mitten in einem Sah, als die Korridortür plötzlich
aufgestoßen wurde, eine weibliche Gestalt herein-
stolperte und auf den einzigen noch leeren Stuhl
in der ärmlichen Stube fiel. Das schwarze Woll-
kleid der jungen, gutgewachsenen Person war ganz
durchnäßt. Das Mädchen warf ihren Regenschirm
in eine Ecke und schlug beide Hände verzweifelt
vors Gesicht.
Muriel unterbrach ihr Diktat. „Was gibt's,
Helen?" fragte sie teilnehmend.
„Entlassen bin ich, nachdem man mich gestern

zehn und heute sechs Stunden gedrillt hat!" schluchzte
Helen.
„Was heißt das?" fragte Ines und ließ ihre grobe
Arbeit in den Schoß sinken, während die anderen
Mädchen, ohne auch nur aufzusehen, ruhig weiter
stichelten.
„Das ist eine Strafmethode vieler Kaufhäuser,"
entgegnete Muriel. Sie sprach ruhig, aber eine
gerechte Empörung leuchtete in ihren großen, strah-
lenden Augen. >,Wenn ein kleiner Fehler bei der
Arbeit oder dem Bedienen vorgckvmmen ist, so läßt
der Chef die Betreffende sich hinstellen und ,warten",
wie das genannt wird. Die Unglückliche steht dann
und .wartet' oft vom Morgen bis zum Abend, ohne
zu essen, ohne Unterbrechung, bis es ihm gefällt,
sie zu erlösen, indem er sie entweder ganz entläßt
oder ihr gnädigst wieder eine Beschäftigung anweist,
bei der sie für einen Jammerlohn den ganzen Tag
weiter arbeiten darf."
Helen schob ihrem Hut zurück. „Was soll nun
aus mir werden?" Ihre geröteten Augen sahen
Muriel verzweifelt an. „Muß ich nun auch hier
sitzen und Knopflöcher nähen? Und wenn ich von

früh sieben bis zum Abend nähe, habe ich gerade
einen Schilling verdient! Wie kann ich meine Mutter
davon ernähren? Mutter kann nicht mehr waschen,
sie ist von der Gicht ganz verkrümmt. Wir tun am
besten, in die Themse zu gehen."
„So weit sind wir noch nicht. Immer Kopf
hoch!" tröstete Muriel. „Soll ich zu Ihrem Chef
hingehen?"
„Das hilft nichts, Miß. Das ärgert und reizt
ihn nur." Helen warf einen scheuen Blick auf
Muriels prachtvolle Gestalt. „Ja, weun ich so aus-
sähe wie Sie, möcht' er's tun. Hundert andere
warten schon auf meinen Platz. Er hat die Aus-
wahl."
„Gib Helen deine Arbeit, Ines," befahl Muriel.
„Ein warmes Mittagessen gibt's bei uns nicht. Aber
Tee schmeckt auch gut und für meinen Toast bin ich
berühmt."
Ines sah, statt zu helfen, wie im Traum zu, als
Muriel den Kessel zum Sieden brachte nnd B.rotscheiben
an dem kleinen Kohlenfeuer röstete. Es kam ihr alles
unwirklich vor, auch als sie mit den anderen aus den
dicken, henkellosen Tassen den heißen, dünnen Tee trank.

Surghausen in vberds^ern. Nach einer Photographie des Leipziger presse-vüros in ceiprig. 106)


V- 1AZ.
 
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