IO? -TU
„Wie kannst du es nur in dieser Hölle aushalten,
Muriel?" fragte sie leise.
Die Näherinnen waren mit dem Essen beschäftigt
und hörten dem Gespräch nicht zu.
„Eine Hölle ist hier nicht! Jammer, Elend, Not
wohl, aber keine Hölle," antwortete Muriel ernst.
„Nicht weit von hier ist die Hölle in ekelhaften Laster-
höhlen, auch in hellglänzenden Sälen, wo die Ge-
sichter nicht blaß vor Hunger, sondern rotgeschminkt
und frech aussehen. Da findest du sie. Ich halte
es hier aus, weil ich aus eigener Anschauung wissen
muß, wie fürchterlich das Elend ist, das unser er-
strebtes Wahlrecht bekämpfen soll."
„Was sagt denn dein Vormund, Lord Sytton,
dazu und sein Sohn George?"
„Natürlich sind sie außer sich über meinen Ent-
schluß. Aber das kümmert mich nicht. Ich kann nicht
im Luxus leben, während meine Mitschwestern
hungern und im Elend versinken. Jeder gute Bissen
käme mir wie gestohlen vor."
„Muriel, du übertreibst. Hilf ihnen mit Geld."
„Das ist nicht genug. Ihr Elend ist mein Elend.
Aus der Tiefe heraus muß ich rufen, nicht von der
Höhe herunter. Durch Lehren und Trost zusprechen
wird nichts gebessert. Diese Ärmsten lehren, heißt
nur ihnen ihr Elend zeigen, und wenn wir nicht mehr
für sie tun als ermahnen, so heißt das ihrer spotten.
Für die Armen in London geschieht viel, mehr wie
in anderen Städten, das weiß ich wohl. Noch nie-
mals vielleicht haben die oberen Stände so viel Mit-
gefühl und Liebe für die niedrigen gezeigt als jetzt
und sind doch niemals so von ihnen gehaßt worden
wie heute. Die Arbeiter, vor allem die Frauen,
wollen eben keine Almosen mehr — sie verlangen
Gerechtigkeit."
Muriels Wangen hatten sich gerötet. Sie war
hinreißend schön in diesem Augenblick. Wie durch
ein Transparent hindurch sah man in ihre glühende,
aufopferungsvolle Seele. In ihren glänzenden,
weitoffenen Augen lag ein visionärer Blick.
„Wir können diese Armen hier "—Muriel breitete
die Arme nach den zusammengeduckten Frauen-
gestalten aus — „nur verstehen, nicht indem wir
über sie nachdenken, sondern indem wir uns mit
ihnen vereinigen und mit ihnen leiden. — Bist du
heute abend frei, Ines? Willst du mit in unseren
Versammlungssaal kommen? Mrs. Wellman, unsere
Vorsitzende, spricht, und dann halte ich einen Vor-
trag."
„Dich möchte ich gern reden hören, Muriel. Aber
wie komme ich nachher nach Hause?"
„Dafür werde ich sorgen."
Nach einer Stunde, die Ines wie mit Blei aus-
gegossen erschien, so langsam verging ihr die Zeit,
brachen sie auf. Ines mußte ein großes Tuch, das
ihren ganzen Anzug verbarg, umnehmen, denn für
Shadwell war ihre Toilette viel zu elegant.
„Gutgekleidete Damen erregen in unserer Gegend
unliebsames Aufsehen, du könntest insultiert wer-
den," meinte Muriel, indem sie den dichten schwarzen
Kreppschleier fest um Ines' Gesicht steckte. „Mich
schützt meine Tracht. Auch bin ich vielen hier genau
bekannt. Komm! — Adieu, Kinder. Lucy bleibt
in meinem Bett liegen. Ihr anderen sorgt für sie
— nicht wahr? Morgen kochen wir uns eine Linsen-
suppe mit Speck, und übermorgen ist Sonntag. Da
wird ausgeschlafen. Das ist schön, May? Was?
May ist nämlich unsere Langschläferin."
Ihr hinreißendes Lachen, tief und weich wie
Glockenton, spiegelte sich als blasser Widerschein in
dem müden Lächeln, das über die blassen, abgearbei-
teten Gesichter der anderen glitt.
„Kate, sei nicht zu fleißig! Du brauchst den
Aufsatz heute nicht mehr fertig zu tippen."
„Doch, Miß Muriel."
Als Muriel an dem Stuhl der kleinen Kate, einem
kaum fünfzehnjährigen Mädchen, vorüberging, griff
die Kleine nach Muriels Kleid und preßte ihr Ge-
sicht in die Falten.
„O Miß, was wäre aus mir geworden, wenn
Sie nicht gekommen wären!"
Muriel strich ihr über das krause, schwarze Haar.
Dann hob sie den gesenkten Kopf hoch und küßte
das durch Blatternarben entstellte Gesicht.
Das Mädchen wurde glühendrot, halb vor Schreck,
halb vor Freude. „Mich hat noch nie jemand ge-
küßt!" murmelte sie.
„Wie konntest du das tun, Muriel! Dieses ab-
scheuliche Geschöpf küssen!" meinte Ines mit einem
Schauder des Ekels, als sie die dunkle, steile Treppe
hinunterstolp erten.
„Gerade weil sie blaß und kränklich ist, küsse ich
sie," antwortete Muriel sanft.
„Wo hast du sie denn aufgegriffen?"
„In einer Matrosenschenke bediente sie den Aus-
wurf der Menschheit, diente als Zielscheibe für ihren
trübseligen Spott. Ich habe Kate Maschinenschreiben
lernen lassen. Sie ist ein kluges, fleißiges Kind und
.- — v38 Luch fürMIe
soll Sekretärin bei unserer Vorsitzenden werden.
Dann zahlt unser Verein ihr ein kleines Gehalt.
Vorläufig erhalte ich sie noch — von Tee, Toast,
Speck und Linsen. — Ach, und sie müßten alle so
gut genährt und gekleidet werden, blauen Himmel,
grüne Bäume sehen! Sie waren alle noch nie wirk-
lich ganz satt, haben noch nie ein neues Kleid, eine
behagliche Stube gehabt! Denke dir das aus, Ines."
Muriels Gesicht sah ernst, fast düster aus. Mit
festen Schritten ging sie über den schmutzigen Hof.
Ines wagte nichts zu antworten. Sie kam sich selbst
schwach und klein neben Muriels zielbewußter, auf-
opfernder Hilfsbereitschaft vor. Sie empfand wohl
auch Mitleid, aber es war mit Ekel und innerem
Widerstreben durchsetzt.
Die Dämmerung sank nieder. Die Straßen
schienen zusammenzuschrumpfen, während die Men-
schenmassen unheimlich anschwollen. Kinder keuchten
mit Säcken beladen über die Gassen.
„Heimarbeiter!" bemerkte Muriel lakonisch.
An dem Rinnstein hockten andere Kinder in
langen Reihen und wühlten mit schmutzstarrenden
Fingerchen im Straßenkehricht. Ein kleiner Junge
wollte sich mit einer heimlich gefundenen schimmligen
Brotrinde fortschleichen. Ein triumphierendes Grin-
sen verzerrte sein mageres Gesichtchen. Aber sofort
sielen andere Kinder über ihn her, pufften und
schlugen ihn. Er weinte nicht, sondern bückte sich
stumm, um die Krumen der ihm entrissenen Rinde
vom Pflaster aufzulesen. Ein Blick grenzenloser
Verzweiflung lag in seinen rotgeränderten, ver-
schwollenen Augen.
Ines blieb stehen und zog ihre Geldtasche.
Aber Muriel hielt ihre Hand fest. „Das hat
keinen Zweck. Es sind zu viele!" sagte sie traurig.
„Die Kinder schlagen sich tot um einen Penny.
Die Stärkeren nehmen den Kleinen das Geld fort
und kaufen sich Branntwein dafür. Und bringt wirk-
lich solch armes Kind einmal Geld nach Hause, so
wird es in Zukunft nur grausam mißhandelt von
den Eltern oder Pflegeeltern, wenn es das nicht
jeden Tag wieder tut. Hier hilft es nichts, einzelnen
die Wunden zu verbinden, eine Seele vor Verzweif-
lung zu erretten — nein, mit der ganzen alten Welt-
ordnung muß gebrochen werden, um für die neue
Platz zu schaffen. — Und jetzt komm weiter!"
Zwölftes Kapitel.-^
Eine große Menge Menschen, hauptsächlich Frauen
aller Stände, umdrängte das Haus, in dem die
Versammlung stattfinden sollte.
Vor der Tür hielt — ein seltener Anblick in diesem
Stadtteil — ein elegantes Automobil, dessen La-
ternen wie zwei glühende Feueraugen durch die
Nebeldämmerung funkelten. Muriels Kleid streifte
den Pelzrock des Chauffeurs, der die Maschine wieder
ankurbelte.
„Lord Syttons Auto," sagte Muriel zu Ines
gewandt. Ein herber Ausdruck legte sich über ihr
Gesicht. „Mein Vormund und sein Sohn George
wollen jedenfalls der Versammlung beiwohnen. Gut
— so sollen sie heute die Wahrheit von mir hören.
— Hier, wir gehen durch diesen Seiteneingang
hinein."
Der große Versammlungssaal war bereits sehr
voll, die Stuhlreihen sämtlich besetzt. Noch immer
schoben sich Frauen und Männer durch die offenen
Türen. Viele mußten an den Wänden stehen bleiben.
Ganz vorn in der ersten Reihe saß Lord Sytton,
ein alter, vornehm aussehender Herr mit grauem,
kurzverschnittenem Haar, ein rassiger Charakterkopf
mit stark markierten Zügen. Neben ihm stand im
eleganten Gesellschaftsanzug, Frack, weißer Binde
und Gardenie im Knopfloch sein ältester Sohn,
George Sytton, auffallend durch die straffe und doch
elegante Haltung seiner hohen, schlanken Gestalt.
Auch ein interessantes Gesicht mit feingebogener
Nase, einem energischen Mund und sehr großen
dunklen Augen.
Mit schnellem Blick überflog er die Versammlung.
„Welch gemischtes Publikum!" Er beugte sich zu
seinem Vater herunter und fuhr fort: „Und vor
diesen Proletariern wird sie sprechen! In dieser
Umgebung lebt sie! Schon der Geruch bringt einen
um!" Er zog sein Taschentuch und wehte ein paar-
mal damit durch die Luft.
„Willst du dich nicht setzen, George?" fragte Lord
Sytton statt jeder anderen Antwort.
„Nein — danke! Zu viele Damen stehen."
George betonte das Wort „Damen" besonders
und lachte spöttisch. „Weißt du übrigens, was ich
nächstens tue, Vater?"
„Nun?"
„Ich entführe Muriel. Mit Gewalt setze ich sie
in unser Auto. Das mag nicht so romantisch sein
wie früher eine Entführung zu Pferde, aber dafür
geht's rascher."
„Demnächst werden sich Mittel und Wege finden
-IMS
lassen, um Muriel zu uns nach Holly Grange zurück-
zuzwingen — auch ohne Entführung," entgegnete
Lord Sytton gemessen. Seine steife Haltung, der
Ausdruck seines Gesichts sprachen seine Mißbilli-
gung deutlich aus.
Eine große, starkknochige Frau mit weißen, straff
aus dem Gesicht gezogenen Haaren betrat zuerst das
Podium. Nach einer etwas ungelenken Verbeugung
vor der Versammlung begann sie ihren Vortrag,
der, nüchtern und sachlich gehalten, eine Schilderung
des sozialen Elends der arbeitenden Frauen gab.
Die angeführten Tatsachen sprachen für sich selbst.
Lord Sytton schüttelte ab und zu den Kopf,
manchmal aber nickte er auch. Schließlich zog er
sein Notizbuch heraus und machte sich einige An-
merkungen.
„Es geht vernünftiger und ruhiger hier zu, wie
ich dachte," bemerkte er. „Viel Neues sagt uns die
Frau zwar nicht, aber was sie spricht, ist sachlich be-
gründet."
George antwortete nicht. Seine ganze Aufmerk-
samkeit richtete sich auf die schlanke, königlich stolze
Mädchengestalt, die jetzt, nachdem die erste Rednerin
abgetreten war, das Podium bestieg.
Muriel!
Seine Blicke schienen eine magnetische Kraft zu
besitzen, denn auch Muriel ließ plötzlich ihre Augen,
die über die Versammlung hingeglitten waren, fest
auf seinem Gesicht ruhen. Eine zarte Röte stieg in
ihre Wangen. Ihr Mund zuckte. Hochaufgerichtet
stand sie auf dem Podium. Die feinen Flügel ihrer
Nase bebten. Die großen, strahlenden Augen flamm-
ten auf.
Und jetzt sprach sie. Laut und klar wie Glocken-
ton drang die vor innerer Bewegung zuerst leicht
bebende Stimme bis in die entfernteste Ecke des
großen Saales und zwang die Zuhörer in ihren
Bann. Noch einmal traf ihr Blick George Sytton.
Ein Blick, der wie der Blitz eines Degens leuchtete.
Eine Herausforderung zum Kampf lag darin.
„Warum wir Frauen das Wahlrecht fordern,
wollt ihr wissen?" begann Muriel, die sich ganz aus-
schließlich an die beiden dicht vor ihr sitzenden Lords
zu richten schien. „Fragt ihr das im °Crnst? Gut.
Ich will es euch sagen. Einer der stärksten Gründe
besteht in der Äußerung des berühmten Ministers
Gladstone: ,Besteuerung ohne Vertretung ist Ty-
rannei.' Wollt ihr das leugnen? Ihr könnt es nicht,
ohne der Wahrheit ins Gesicht zu schlagen. Ein
zweiter, noch schwerer: wiegender Grund sind die
Hungerlöhne, die für die Männer abgeschafft wurden
durch ihren Einfluß bei den Wahlen, für die Frauen
aber, die kein Wahlrecht besitzen, geblieben sind.
Wagt ihr es, zu bestreiten, daß die Regierung selbst,
nicht etwa nur erwerbsgierige Arbeitgeber, den
Frauen Hungerlöhne zahlt und die Kraft der Frauen
dafür bis aufs Mark auspreßt? Wagt ihr das wirk-
lich? Oh, dann kommt mit mir nach Cradley Heath
zu den Kettenarbeiterinnen. Tausende von ihnen
arbeiten täglich dort. Sie stehen in rauchenden
Schmieden, wo sie Eisenstangen glühend machen, sie
in kurze Stücke abbrechen und die Enden der Ketten-
glieder mit Hammerschlägen zusammenschweißen.
Das sind schwere Ketten, die man für Schiffe, für
Bauten und dergleichen braucht. Die Frauen arbeiten
von acht Uhr früh bis acht Uhr abends und müssen
die ganze Zeit stehen, da keine Sitze vorhanden sind.
Und für diese geradezu vernichtende Arbeit erhalten
sie fünf bis sechs Schilling wöchentlich. Ich habe
noch junge Frauen bei dieser Arbeit gesehen, deren
Rücken fast so gebogen waren wie die Kettenglieder,
die sie hämmerten. Aus Schweiß, Blut und Tränen
sind die Ketten geschmiedet, mit denen ihr uns bindet!
Diese Arbeiterinnen werden oft wahnsinnig aus
Mangel und Hunger. Ich weiß wohl, es muß Arbeit
mit den Händen getan werden, sonst könnte keiner
von uns leben. Es muß Arbeit mit dem Gehirn
getan werden, sonst würde unser Leben nicht lebens-
wert sein. Und dieselben Menschen können nicht
beides tun. Es gibt rauhe Arbeit, und rauhe Men-
schen müssen sie verrichten. Es gibt edle Arbeit zu
tun, und die geistig Vornehmen müssen sie voll-
bringen. Es ist Physisch unmöglich, daß eine Klasse
die Arbeit der anderen tun oder teilen könnte. Es
nützt nichts, diese traurige Tatsache durch schöne
Worte verbergen zu wollen und den Arbeitern von
der Ehre harter Arbeit und der Würde der Mensch-
heit zu sprechen. Rauhe, harte Arbeit, ehrenwert
oder nicht, entzieht uns das Leben. Ist es erlaubt,
vielen Menschen einen Teil der Seele, des Hirns
auszusaugen, damit andere nur ihren Liebhabereien,
ihrem Sport, ihrem Vergnügen leben können? Ist
es erlaubt, den größeren Teil der Menschheit zu
Maschinen zu erniedrigen? Den allgemeinen Auf-
schrei gegen den Reichtum und den Adel preßt ihnen
nicht nur der Druck der Armut, die Qual des Hun-
gers, sondern vor allem der gekränkte Stolz aus.
Denn sie fühlen, daß die Art der Arbeit, zu der sie
„Wie kannst du es nur in dieser Hölle aushalten,
Muriel?" fragte sie leise.
Die Näherinnen waren mit dem Essen beschäftigt
und hörten dem Gespräch nicht zu.
„Eine Hölle ist hier nicht! Jammer, Elend, Not
wohl, aber keine Hölle," antwortete Muriel ernst.
„Nicht weit von hier ist die Hölle in ekelhaften Laster-
höhlen, auch in hellglänzenden Sälen, wo die Ge-
sichter nicht blaß vor Hunger, sondern rotgeschminkt
und frech aussehen. Da findest du sie. Ich halte
es hier aus, weil ich aus eigener Anschauung wissen
muß, wie fürchterlich das Elend ist, das unser er-
strebtes Wahlrecht bekämpfen soll."
„Was sagt denn dein Vormund, Lord Sytton,
dazu und sein Sohn George?"
„Natürlich sind sie außer sich über meinen Ent-
schluß. Aber das kümmert mich nicht. Ich kann nicht
im Luxus leben, während meine Mitschwestern
hungern und im Elend versinken. Jeder gute Bissen
käme mir wie gestohlen vor."
„Muriel, du übertreibst. Hilf ihnen mit Geld."
„Das ist nicht genug. Ihr Elend ist mein Elend.
Aus der Tiefe heraus muß ich rufen, nicht von der
Höhe herunter. Durch Lehren und Trost zusprechen
wird nichts gebessert. Diese Ärmsten lehren, heißt
nur ihnen ihr Elend zeigen, und wenn wir nicht mehr
für sie tun als ermahnen, so heißt das ihrer spotten.
Für die Armen in London geschieht viel, mehr wie
in anderen Städten, das weiß ich wohl. Noch nie-
mals vielleicht haben die oberen Stände so viel Mit-
gefühl und Liebe für die niedrigen gezeigt als jetzt
und sind doch niemals so von ihnen gehaßt worden
wie heute. Die Arbeiter, vor allem die Frauen,
wollen eben keine Almosen mehr — sie verlangen
Gerechtigkeit."
Muriels Wangen hatten sich gerötet. Sie war
hinreißend schön in diesem Augenblick. Wie durch
ein Transparent hindurch sah man in ihre glühende,
aufopferungsvolle Seele. In ihren glänzenden,
weitoffenen Augen lag ein visionärer Blick.
„Wir können diese Armen hier "—Muriel breitete
die Arme nach den zusammengeduckten Frauen-
gestalten aus — „nur verstehen, nicht indem wir
über sie nachdenken, sondern indem wir uns mit
ihnen vereinigen und mit ihnen leiden. — Bist du
heute abend frei, Ines? Willst du mit in unseren
Versammlungssaal kommen? Mrs. Wellman, unsere
Vorsitzende, spricht, und dann halte ich einen Vor-
trag."
„Dich möchte ich gern reden hören, Muriel. Aber
wie komme ich nachher nach Hause?"
„Dafür werde ich sorgen."
Nach einer Stunde, die Ines wie mit Blei aus-
gegossen erschien, so langsam verging ihr die Zeit,
brachen sie auf. Ines mußte ein großes Tuch, das
ihren ganzen Anzug verbarg, umnehmen, denn für
Shadwell war ihre Toilette viel zu elegant.
„Gutgekleidete Damen erregen in unserer Gegend
unliebsames Aufsehen, du könntest insultiert wer-
den," meinte Muriel, indem sie den dichten schwarzen
Kreppschleier fest um Ines' Gesicht steckte. „Mich
schützt meine Tracht. Auch bin ich vielen hier genau
bekannt. Komm! — Adieu, Kinder. Lucy bleibt
in meinem Bett liegen. Ihr anderen sorgt für sie
— nicht wahr? Morgen kochen wir uns eine Linsen-
suppe mit Speck, und übermorgen ist Sonntag. Da
wird ausgeschlafen. Das ist schön, May? Was?
May ist nämlich unsere Langschläferin."
Ihr hinreißendes Lachen, tief und weich wie
Glockenton, spiegelte sich als blasser Widerschein in
dem müden Lächeln, das über die blassen, abgearbei-
teten Gesichter der anderen glitt.
„Kate, sei nicht zu fleißig! Du brauchst den
Aufsatz heute nicht mehr fertig zu tippen."
„Doch, Miß Muriel."
Als Muriel an dem Stuhl der kleinen Kate, einem
kaum fünfzehnjährigen Mädchen, vorüberging, griff
die Kleine nach Muriels Kleid und preßte ihr Ge-
sicht in die Falten.
„O Miß, was wäre aus mir geworden, wenn
Sie nicht gekommen wären!"
Muriel strich ihr über das krause, schwarze Haar.
Dann hob sie den gesenkten Kopf hoch und küßte
das durch Blatternarben entstellte Gesicht.
Das Mädchen wurde glühendrot, halb vor Schreck,
halb vor Freude. „Mich hat noch nie jemand ge-
küßt!" murmelte sie.
„Wie konntest du das tun, Muriel! Dieses ab-
scheuliche Geschöpf küssen!" meinte Ines mit einem
Schauder des Ekels, als sie die dunkle, steile Treppe
hinunterstolp erten.
„Gerade weil sie blaß und kränklich ist, küsse ich
sie," antwortete Muriel sanft.
„Wo hast du sie denn aufgegriffen?"
„In einer Matrosenschenke bediente sie den Aus-
wurf der Menschheit, diente als Zielscheibe für ihren
trübseligen Spott. Ich habe Kate Maschinenschreiben
lernen lassen. Sie ist ein kluges, fleißiges Kind und
.- — v38 Luch fürMIe
soll Sekretärin bei unserer Vorsitzenden werden.
Dann zahlt unser Verein ihr ein kleines Gehalt.
Vorläufig erhalte ich sie noch — von Tee, Toast,
Speck und Linsen. — Ach, und sie müßten alle so
gut genährt und gekleidet werden, blauen Himmel,
grüne Bäume sehen! Sie waren alle noch nie wirk-
lich ganz satt, haben noch nie ein neues Kleid, eine
behagliche Stube gehabt! Denke dir das aus, Ines."
Muriels Gesicht sah ernst, fast düster aus. Mit
festen Schritten ging sie über den schmutzigen Hof.
Ines wagte nichts zu antworten. Sie kam sich selbst
schwach und klein neben Muriels zielbewußter, auf-
opfernder Hilfsbereitschaft vor. Sie empfand wohl
auch Mitleid, aber es war mit Ekel und innerem
Widerstreben durchsetzt.
Die Dämmerung sank nieder. Die Straßen
schienen zusammenzuschrumpfen, während die Men-
schenmassen unheimlich anschwollen. Kinder keuchten
mit Säcken beladen über die Gassen.
„Heimarbeiter!" bemerkte Muriel lakonisch.
An dem Rinnstein hockten andere Kinder in
langen Reihen und wühlten mit schmutzstarrenden
Fingerchen im Straßenkehricht. Ein kleiner Junge
wollte sich mit einer heimlich gefundenen schimmligen
Brotrinde fortschleichen. Ein triumphierendes Grin-
sen verzerrte sein mageres Gesichtchen. Aber sofort
sielen andere Kinder über ihn her, pufften und
schlugen ihn. Er weinte nicht, sondern bückte sich
stumm, um die Krumen der ihm entrissenen Rinde
vom Pflaster aufzulesen. Ein Blick grenzenloser
Verzweiflung lag in seinen rotgeränderten, ver-
schwollenen Augen.
Ines blieb stehen und zog ihre Geldtasche.
Aber Muriel hielt ihre Hand fest. „Das hat
keinen Zweck. Es sind zu viele!" sagte sie traurig.
„Die Kinder schlagen sich tot um einen Penny.
Die Stärkeren nehmen den Kleinen das Geld fort
und kaufen sich Branntwein dafür. Und bringt wirk-
lich solch armes Kind einmal Geld nach Hause, so
wird es in Zukunft nur grausam mißhandelt von
den Eltern oder Pflegeeltern, wenn es das nicht
jeden Tag wieder tut. Hier hilft es nichts, einzelnen
die Wunden zu verbinden, eine Seele vor Verzweif-
lung zu erretten — nein, mit der ganzen alten Welt-
ordnung muß gebrochen werden, um für die neue
Platz zu schaffen. — Und jetzt komm weiter!"
Zwölftes Kapitel.-^
Eine große Menge Menschen, hauptsächlich Frauen
aller Stände, umdrängte das Haus, in dem die
Versammlung stattfinden sollte.
Vor der Tür hielt — ein seltener Anblick in diesem
Stadtteil — ein elegantes Automobil, dessen La-
ternen wie zwei glühende Feueraugen durch die
Nebeldämmerung funkelten. Muriels Kleid streifte
den Pelzrock des Chauffeurs, der die Maschine wieder
ankurbelte.
„Lord Syttons Auto," sagte Muriel zu Ines
gewandt. Ein herber Ausdruck legte sich über ihr
Gesicht. „Mein Vormund und sein Sohn George
wollen jedenfalls der Versammlung beiwohnen. Gut
— so sollen sie heute die Wahrheit von mir hören.
— Hier, wir gehen durch diesen Seiteneingang
hinein."
Der große Versammlungssaal war bereits sehr
voll, die Stuhlreihen sämtlich besetzt. Noch immer
schoben sich Frauen und Männer durch die offenen
Türen. Viele mußten an den Wänden stehen bleiben.
Ganz vorn in der ersten Reihe saß Lord Sytton,
ein alter, vornehm aussehender Herr mit grauem,
kurzverschnittenem Haar, ein rassiger Charakterkopf
mit stark markierten Zügen. Neben ihm stand im
eleganten Gesellschaftsanzug, Frack, weißer Binde
und Gardenie im Knopfloch sein ältester Sohn,
George Sytton, auffallend durch die straffe und doch
elegante Haltung seiner hohen, schlanken Gestalt.
Auch ein interessantes Gesicht mit feingebogener
Nase, einem energischen Mund und sehr großen
dunklen Augen.
Mit schnellem Blick überflog er die Versammlung.
„Welch gemischtes Publikum!" Er beugte sich zu
seinem Vater herunter und fuhr fort: „Und vor
diesen Proletariern wird sie sprechen! In dieser
Umgebung lebt sie! Schon der Geruch bringt einen
um!" Er zog sein Taschentuch und wehte ein paar-
mal damit durch die Luft.
„Willst du dich nicht setzen, George?" fragte Lord
Sytton statt jeder anderen Antwort.
„Nein — danke! Zu viele Damen stehen."
George betonte das Wort „Damen" besonders
und lachte spöttisch. „Weißt du übrigens, was ich
nächstens tue, Vater?"
„Nun?"
„Ich entführe Muriel. Mit Gewalt setze ich sie
in unser Auto. Das mag nicht so romantisch sein
wie früher eine Entführung zu Pferde, aber dafür
geht's rascher."
„Demnächst werden sich Mittel und Wege finden
-IMS
lassen, um Muriel zu uns nach Holly Grange zurück-
zuzwingen — auch ohne Entführung," entgegnete
Lord Sytton gemessen. Seine steife Haltung, der
Ausdruck seines Gesichts sprachen seine Mißbilli-
gung deutlich aus.
Eine große, starkknochige Frau mit weißen, straff
aus dem Gesicht gezogenen Haaren betrat zuerst das
Podium. Nach einer etwas ungelenken Verbeugung
vor der Versammlung begann sie ihren Vortrag,
der, nüchtern und sachlich gehalten, eine Schilderung
des sozialen Elends der arbeitenden Frauen gab.
Die angeführten Tatsachen sprachen für sich selbst.
Lord Sytton schüttelte ab und zu den Kopf,
manchmal aber nickte er auch. Schließlich zog er
sein Notizbuch heraus und machte sich einige An-
merkungen.
„Es geht vernünftiger und ruhiger hier zu, wie
ich dachte," bemerkte er. „Viel Neues sagt uns die
Frau zwar nicht, aber was sie spricht, ist sachlich be-
gründet."
George antwortete nicht. Seine ganze Aufmerk-
samkeit richtete sich auf die schlanke, königlich stolze
Mädchengestalt, die jetzt, nachdem die erste Rednerin
abgetreten war, das Podium bestieg.
Muriel!
Seine Blicke schienen eine magnetische Kraft zu
besitzen, denn auch Muriel ließ plötzlich ihre Augen,
die über die Versammlung hingeglitten waren, fest
auf seinem Gesicht ruhen. Eine zarte Röte stieg in
ihre Wangen. Ihr Mund zuckte. Hochaufgerichtet
stand sie auf dem Podium. Die feinen Flügel ihrer
Nase bebten. Die großen, strahlenden Augen flamm-
ten auf.
Und jetzt sprach sie. Laut und klar wie Glocken-
ton drang die vor innerer Bewegung zuerst leicht
bebende Stimme bis in die entfernteste Ecke des
großen Saales und zwang die Zuhörer in ihren
Bann. Noch einmal traf ihr Blick George Sytton.
Ein Blick, der wie der Blitz eines Degens leuchtete.
Eine Herausforderung zum Kampf lag darin.
„Warum wir Frauen das Wahlrecht fordern,
wollt ihr wissen?" begann Muriel, die sich ganz aus-
schließlich an die beiden dicht vor ihr sitzenden Lords
zu richten schien. „Fragt ihr das im °Crnst? Gut.
Ich will es euch sagen. Einer der stärksten Gründe
besteht in der Äußerung des berühmten Ministers
Gladstone: ,Besteuerung ohne Vertretung ist Ty-
rannei.' Wollt ihr das leugnen? Ihr könnt es nicht,
ohne der Wahrheit ins Gesicht zu schlagen. Ein
zweiter, noch schwerer: wiegender Grund sind die
Hungerlöhne, die für die Männer abgeschafft wurden
durch ihren Einfluß bei den Wahlen, für die Frauen
aber, die kein Wahlrecht besitzen, geblieben sind.
Wagt ihr es, zu bestreiten, daß die Regierung selbst,
nicht etwa nur erwerbsgierige Arbeitgeber, den
Frauen Hungerlöhne zahlt und die Kraft der Frauen
dafür bis aufs Mark auspreßt? Wagt ihr das wirk-
lich? Oh, dann kommt mit mir nach Cradley Heath
zu den Kettenarbeiterinnen. Tausende von ihnen
arbeiten täglich dort. Sie stehen in rauchenden
Schmieden, wo sie Eisenstangen glühend machen, sie
in kurze Stücke abbrechen und die Enden der Ketten-
glieder mit Hammerschlägen zusammenschweißen.
Das sind schwere Ketten, die man für Schiffe, für
Bauten und dergleichen braucht. Die Frauen arbeiten
von acht Uhr früh bis acht Uhr abends und müssen
die ganze Zeit stehen, da keine Sitze vorhanden sind.
Und für diese geradezu vernichtende Arbeit erhalten
sie fünf bis sechs Schilling wöchentlich. Ich habe
noch junge Frauen bei dieser Arbeit gesehen, deren
Rücken fast so gebogen waren wie die Kettenglieder,
die sie hämmerten. Aus Schweiß, Blut und Tränen
sind die Ketten geschmiedet, mit denen ihr uns bindet!
Diese Arbeiterinnen werden oft wahnsinnig aus
Mangel und Hunger. Ich weiß wohl, es muß Arbeit
mit den Händen getan werden, sonst könnte keiner
von uns leben. Es muß Arbeit mit dem Gehirn
getan werden, sonst würde unser Leben nicht lebens-
wert sein. Und dieselben Menschen können nicht
beides tun. Es gibt rauhe Arbeit, und rauhe Men-
schen müssen sie verrichten. Es gibt edle Arbeit zu
tun, und die geistig Vornehmen müssen sie voll-
bringen. Es ist Physisch unmöglich, daß eine Klasse
die Arbeit der anderen tun oder teilen könnte. Es
nützt nichts, diese traurige Tatsache durch schöne
Worte verbergen zu wollen und den Arbeitern von
der Ehre harter Arbeit und der Würde der Mensch-
heit zu sprechen. Rauhe, harte Arbeit, ehrenwert
oder nicht, entzieht uns das Leben. Ist es erlaubt,
vielen Menschen einen Teil der Seele, des Hirns
auszusaugen, damit andere nur ihren Liebhabereien,
ihrem Sport, ihrem Vergnügen leben können? Ist
es erlaubt, den größeren Teil der Menschheit zu
Maschinen zu erniedrigen? Den allgemeinen Auf-
schrei gegen den Reichtum und den Adel preßt ihnen
nicht nur der Druck der Armut, die Qual des Hun-
gers, sondern vor allem der gekränkte Stolz aus.
Denn sie fühlen, daß die Art der Arbeit, zu der sie