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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 48.1913

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Heft 1
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https://doi.org/10.11588/diglit.47352#0016
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8. ..
Minuten mochten verstrichen sein, ehe wieder
Bewegung in ihre Glieder kam. Ihre Hand tastete
nach dem Papiermesser, dessen sie sich zum Offnen
der anderen Briefe bedient hatte, und sie hielt es
bereits zwischen den Fingern, als sie sich daran zu
erinueru schien, daß dies Schreiben ja gar nicht für
sie bestimmt war. Nun schleuderte sie den Brief
auf den inmitten des Zimmers stehenden Tisch hin-
über, wie wenn er sich mit einem Male in ihrer
Hand zu glühendem Eisen verwandelt hätte. Ihre
vorige Ruhe aber hatte sie damit nicht zurückge-

_ - V35 Luch fül- Mle m. I
Wonnen. Sie stand auf, ging ein paarmal hin und
her und trat dann mit gekrauster Stirn an das Fen-
ster, um leeren Blickes in das Flockengeriesel des
trüben Wintertages hinauszustarren. Gewiß war
ihr Gesicht jetzt nicht weniger schön als vorhin, da
es von einem Lächeln der Freude an dem eigenen
Liebreiz überflogen worden war; aber es erschien
fast wie das Antlitz eines ganz anderen Wesens.
Wie weggewischt war alle mädchenhafte Weichheit
und Liebenswürdigkeit. Der fest geschlossene Mund
und das leicht vorgeschobene Kinn sprachen von

_ _ 7m Heft 1
Härte; das Beben der Nasenflügel aber und ein
seltsames Glimmen auf dem Grunde der dunkler
gewordenen Augen sprachen von heißer, jäh auf-
gewühlter Leidenschaft.
Unten vor dem Hause hielt eine Droschke. Ein
junges Mädchen schlüpfte heraus, um dem Kutscher
ein Geldstück in die Hand zu drücken und dann
hastig die Pförtnerglocke zu ziehen. Nora Tessen-
dorf hatte es gesehen, und indem sic vom Fenster
zurücktrat, fuhr sie sich leicht mit der Hand über
die Stirn. Dann, nach einem kleinen Zaudern,

gumoMisches: Cin


Ter Lohnkutscher Hiesl im jrcuudlichcn Kurort
T war eine fidele Haut. Immer lustig, wenu er
auf dem Bock saß, liebte er doch am meisten die
Fahrten, bei denen recht fleißig eingckehrl wurde,'


denn im Wirtshaus war er recht eigentlich in sei-
nem Element. Da fand er des Schnackelns und des
Schnurrenerzählens kein Ende. Deshalb ist er heute
gar nicht sehr erbaut, als ihn zwei ältliche Damen,


anscheinend Engländerinnen, aus morgen früh acht
Uhr zu einer Fahrt nach dem zwei Stunden ent.
fernteu Strnbelwasserfall engagieren. „O weh," denkt
der Hicsl, „die Sorte kenn' ich, das wird eine trockene
Partie werden!"


Kaum find die sort, kommen drei flotte Studen-
ten, die möchten morgen früh um neun Uhr eine Fuhre
nach dem KlostcrbräukcUcr. „Himmikruzitnrken!"
flucht der Hiesl, dem natürlich diese Fahrt viel lieber
gewesen wäre. Nach einigem Bedenken jedoch sagt
er auch hier zu.

Punkt acht Uhr fährt der HieSl mit seinen beiden
Misses ab. Anfangs ist er mürrisch und verschlossen.
Kaum jedoch sind sie eine halbe Stunde nutcrwege,
als er ein merkwürdiges Gebaren zeigt.


„Rrrr — ivau! — Rrrr — wau!" macht er in eim m
fort, gleich einem bissigen Dorsköter, so daß ihn d.e
höchst befremdeten Damen endlich fragen, was ihm
denn eigentlich schlc.



„Ja, schauen's," sagt der Hiesl, „dös is so a
G'schicht: grab au dieser Stelle bin i amal von
einem tollen Hund gebissen worden: der Doktor, den
i g'fragt hab', sagte, dös kam' bei mir erst in drei
Jahren zum Ausbruch, und schauen's — heute sind
grad drei Jahr her, und dabei bin i ganz g'sund!


wau!" nach L zurück, währeud die entsetzten Damen,
froh, einer furchtbaren Gefahr entronnen zu sein,
mit langen Schritten aus seinem Bereich zu kommen
trachte».


Jetzt muß i aber lachen! Rrrr — wau! — Rrrr —
wau!"
Die Damen werden bei dieser Erzählung kreide-
bleich. „O bitte," stottert die eine, „hatten Sie!
Ich glaube, cs ist besser, wenn wir den Rest des
Weges zu Fug zurücklegen."


Grad znr rechten Zeit langt das Gefährt wie-
der in T an, um die Studenten auszunehmen; und
jetzt beginnt eine fröhliche Bummelfahrt so recht
nach dem Herzen Hiesls.

„Na, wie die Damen wollen!" sagt der Hiesl,
und als ihm die eine der Damen zitternd das Fahr-
geld in die Hand gelegt hat, fährt er mit einem ver-
gnügten „Vcrgelt's Gott und vielen Dank — rrrr —


Die beste seiner Schnurren jedoch, die er heute
erzählt, ist die Geschichte von den beiden Misses und
ihrem tollwütigen Kutscher.


griff sie noch einmal nach dem Briefe und wies ihm
einen anderen Platz an, wo er einem Eintretenden
nicht, wie auf dem Tische, sogleich in die Augen
fallen mußte. Nun hörte sie draußen eine weiche
Mädchenstimme fragen, ob Fräulein Tessendorf noch
bei der Toilette sei, und ehe die Jungfer hatte Aus-
kunft geben können, öffnete sie die Tür.
„Guten Morgen, Liebling! Schon so bald zurück?
Hatten wir nicht verabredet, uns um ein Uhr in
der Stadt zu treffen?"
Die Angeredete, die auf dem Gange hastig Hut
und Jackett abgelegt hatte, flog auf fie zu, um sie
fast stürmisch zu umschlingen. „Sei nicht böse,
liebste, beste Nora — bitte, sei mir nicht böse! Ich
mochte die anderen Besuche heute nicht mehr machen.

Heute nicht und überhaupt nicht. Wenn du mich
liebhast, wirst du mich nicht dazu zwingen."
In der lieben, Hellen Kinderstimme war es wie
verhaltenes Schluchzen, und an den langen Wimpern
zitterten auch wirklich schon zwei blinkende Tröpflein.
Mit jenem liebenswürdigen Lächeln, das sie so
jung und so reizend machte, streichelte Nora Tessen-
dorf zärtlich die heiße Wange der höchstens Acht-
zehnjährigen. „Wann hätte ich dich jemals zu etwas
gezwungen, meine kleine Eva? Du wirst tun, was
dir gefällt. Aber du wirst mir auch sagen, weshalb
du plötzlich eine solche Abneigung dagegen hast,
deine Freunde zu besuchen?"
„Ach, meine Freunde! Es find gar nicht meine
Freunde. Und ich will nichts mehr mit ihnen zu

schaffen haben — gar nichts! Ich habe keine Freun-
din auf der Welt als dich, und solange du mich nicht
verstößt, sind mir alle anderen gleichgültig — nein,
verhaßt sind sie mir, geradezu verhaßt!"
Nun rollten die Tränen unaufhaltsam über das
allerliebste, aufgeregte Gesichtchen.
Nora tupfte sie mit ihrem Taschentuch fort, wäh-
rend sie das junge Mädchen neben sich auf das un-
mutig knarrende, winzige Rokokososa niederzog.
„Das ist ja sehr schlimm für die Armen. Aber ich
hoffe, du wirst dich noch etwas milder stimmen
lassen. Vor allem möchte ich wissen, was dir in der
kurzen Stunde deines Fernseins Schreckliches wider-
fahren ist. Sollte jemand gewagt haben, dich zu
beleidigen?"
 
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