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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 48.1913

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Heft 2
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https://doi.org/10.11588/diglit.47352#0057
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Ml 2

Vas Ruch für vlle.7^..... -i_n.49

wegen seiner Lieblosigkeit Vorwürfe machte, seine Gattin um-
armte und sagte: „Wir wollen bleiben, liebe Franziska. Es
wäre ja grausam, wenn ich die Neugierde der Liebe nicht
opferte. Wir leben so glücklich und zufrieden und sollten uns
jetzt über eine Kleinigkeit entzweien! Nein, nein, wir bleiben
zu Hause!"
Die Frauen haben immer ihre Sonderbarkeiten. Auch bei
der Baronin sand ihres Mannes Nachgiebigkeit mehr Eingang
als seine Gründe. Sie wollte sich von ihrem Gemahl nicht be-
schämen lassen und meinte: „Wenn ich es genau überlege, so
ist es doch besser, daß wir dem Feste beiwohnen. Man sieht so
etwas nicht alle Tage, und wenn wir bei guter Zeit wieder
heimgehen, so wird es mir nichts schaden."
Sie trat vor den Spiegel, ordnete ihr Haar und begann ihre
Toilette, und als diese beendet war, bot sie dem Gemahl den
Arm, lächelte und bat ihn zärtlich um Verzeihung, daß sie ein
wenig eigensinnig gewesen sei. Noch einmal küßte sie ihren in
der Wiege liegenden Säugling, und dann entfernten sie sich.
Beide gingen über die Boulevards, betrachteten das wogende
Menschengewühl, freuten sich des sonnenhellen Tages und
sahen, was zu sehen war.
Das Fest, das die Hauptstadt dem Könige gab, war sehr
glänzend. Als die junge Königin sich zeigte, wogte ihr ein
vieltausendstimmiger Freudenruf entgegen. Auf dem Platz
Louis' XV. waren Tausende von Zuschauern versammelt, und
jeder drängte sich, dem königlichen Paare recht nahe zu sein.
Keiner ahnte das grauenvolle Ende, das so nahe war.
Das Gedränge auf der Brücke, die zu dem Platz führte,
wurde immer schlimmer. Menschen häuften sich zu Menschen;
viele stiegen auf das Brückengeländer, um dem Tumult zu ent-
gehen, stürzten aber in die Seine, wo sie ertranken. Auch
Montigny befand sich mit seiner jungen Frau auf der Brücke
und sah sich mit Grausen plötzlich im wildesten Gedränge. Er
schlang den linken Arm um seine Gattin und wollte sie in die
Höhe heben, während der rechte sich Luft zu machen strebte.
Aber vergebens. Wie eingemauert stand er da und konnte
weder rück- noch vorwärts. Keiner wich dem anderen; jeder sah
in seinem Nachbar einen Feind, den er gerne zurückgestoßen
hätte, wäre es möglich gewesen.
Bei dem Anblick seiner Gattin, die schon einer Sterbenden
glich, verlieh ihm endlich die Verzweiflung Riesenkraft. Er
wollte, er mußte sich und seine Gattin retten. Gerade lüftete
sich das Gedränge ein wenig. Da rief er seinem Weibe zu,
indem er ihr den Rücken zuwendete: „Umklammere meinen
Hals und halte dich mit allen Kräften der Verzweiflung fest!
Ich dränge mich durch die Massen, und wir werden entweder
beide gerettet oder wir sterben beide zusammen!"
Da umklammerten zwei Arme seinen Hals, und er fühlte die
teure Last auf seinem Rücken. Er drängte sich mit Riesenkraft
vorwärts; schweigend, keuchend und knirschend drang er durch
und war dem Ende der Brücke nahe. Die Hoffnung gab ihm
neue Stärke, und der Himmel schien ihn zu begünstigen. Bald
werden Liebe und Mut gesiegt haben. Noch ein paar Schritte —
sic waren gerettet!
„Gott sei gelobt!" stöhnte er. „Lasse deine Arme los, damit
ich atmen kann!"
Die Arme lösen sich. Er blickt sich um.
Entsetzlich — sie ist es nicht, seine Franziska, sondern eine
alte Frau mit triefenden Augen steht vor ihm. Sein Blut
gerinnt in allen Adern; er steht lautlos da, während die Alte
ihm hohnlachend zuruft: „Sie wollte sich auf deinen Rücken
hängen, aber ich habe sie zurückgestoßen. Jeder hat sein Leben
lieb. Ich danke dir für deinen Dienst!"
In stummer Verzweiflung starrte Montigny sie noch an,
als er ein donnerndes Krachen hörte. Die Brücke stürzte zu-
sammen und riß über zwölfhundert Menschen mit hinab.
Darunter sein armes Weib. C. T.
Ein sparsamer Tenor. — Tamagno, der wegen seiner
großen Stimmkraft berühmte italienische Tenor, war trotz der
hohen Einnahmen, die er überall erzielte, nach dem Bericht
des Impresarios Schürrmann von einer Sparsamkeit, die schon
eher Geiz zu nennen ist. Um zum Beispiel Kosten für Heizung

zu sparen, führte Tamagno auf allen Reisen im Koffer einen
kleinen Petroleumofen mit, der nicht nur zur Erwärmung
der Zimmer diente, sondern an dem Tamagno sich höchst
eigenhändig seine Mahlzeiten zubereitete. Das Einkäufen für
die Küche besorgte Tamagno aus dem gleichen Grunde eben-
falls selbst. Er ging jeden Morgen auf den Markt und kaufte
ein. Wer nun aber glaubt, Tamagno hätte die Waren regel-
recht bezahlt, irrt sich. Er bezahlte nur die Hälfte, während die
Verkäufer für die andere Hälfte Freibillette in Zahlung nehmen
mußten. Auf diese Weise ersparte er täglich drei bis vier Mark.
Von einem sparsamen Manne kann man nicht an-
nehmen, daß er es liebte, Trinkgelder zu geben, und so zog
Tamagno es denn auch vor, nicht im Hotel, sondern überall
in Privatwohnungen ein Unterkommen zu suchen, wo er
höchstens einem einzigen Dienstboten ein Trinkgeld zu geben
brauchte. Die Beleuchtung war wieder ein Punkt, bei dem
gewaltig gespart werden konnte. Alle Verträge, die Tamagno
abschloß, enthielten eine seltsame Klausel: für jeden Vor-
stellungsabend hatte Tamagno zweiunddreißig Kerzen für die
Beleuchtung seiner Garderobe zur Verfügung. Das war
sehr weise ausgedacht, denn natürlich waren überall die
Garderoben mit Gaslicht beleuchtet, Tamagno aber verlangte
seine zweiunddreißig Kerzen ausdrücklich und bekam sie denn
auch. Zwei oder drei davon verwendete er zur Beleuchtung
seiner Privatzimmer, die- übrigen aber wurden sorgfältig
eingepackt. Schürrmann gibt zwar nicht an, ob Tamagno
sie etwa verkauft hat, aber er sagt, während seiner Reisen
mit dem Künstler habe er so viele verpackt, daß man einen
ganzen Kerzcnladen damit auf Jahre hinaus hätte versorgen
können. O. v. B.
Ter Kanonier. Als General Lee im Sommer 1862 den
Oberbefehl über die Südarmee im amerikanischen Bürgerkriege
übernommen hatte und in Maryland eingerückt war, kam er
eines Tages bei Antietam während einer Pause nach einer
scharfen Kanonade an einer Batterie vorüber, die neuer Be-
fehle gewärtig dastand.
„General, kommen wir bald wieder ins Feuer?" hörte er
eine jugendliche Stimme hinter sich rufen.
Die Stimme kam ihm bekannt vor, und seinen Schritt ver-
langsamend blickte er sich um. Ein höchstens siebzehnjähriger
Kanonier mit rauchgeschwärztem Gesicht winkte ihm mit der
schmutzigen Hand einen Gruß zu. Kein Mensch im Heere hätte
sich eine derartige Vertraulichkeit gegen General Lee gestattet,
und hätte einer es gewagt, so hätte der General es sich wahr-
scheinlich sehr energisch verbeten. Diesem halben Kinde gegen-
über blieb er aber stehen und erwiderte freundlich: „Ja, mein
Junge, ihr kommt sehr bald wieder ins Feuer." Dann fügte
er nachsinnend hinzu:' „Mir ist's, als müßte ich dich kennen.
Wie heißt du denn?"
Da lachte der jugendliche Artillerist und rief: „Bob Lee,
heiße ich!"
Der Vater glaubte seinen Jüngsten wohlbehalten in der
Kriegschule zu Virginia. Es war eine nicht geringe Über-
raschung für ihn, ihn in dieser Situation vor sich zu sehen.
Dennoch freute es ihn, daß solch kühnes Soldatenblut in den
Adern seines Sohnes rollte.
Als der Tag zur Rüste ging, hatten Vater und Sohn in dem
für die Südstaaten so unglücklichen Kriege ihre erste Nieder-
lage erlebt. C. D.
Bauer und Kanzler. — Ein böhmischer Bauer hatte bei der
Landesregierung eine Beschwerde eingereicht. Als er aber lange
Zeit keinen Bescheid bekam, ging er selbst in die Residenz und
ließ sich beim damaligen Kanzler melden, um vor diesem hohen
Herrn seine Sache persönlich zu verfechten. Während der Ver-
handlung redete der Bauer den Kanzler beständig „Herr
Kanzelist" an. Der Kanzler ließ sich das ruhig gefallen, besprach
mit dem Manne dessen Angelegenheit freundlich und gab ihm
Auskunft und guten Rat. Am Schlüsse, als der Bauer sich
verabschieden wollte, sagte der Kanzler zu ihm: „Ich bin aber
nicht ein Kanzelist, sondern ich bin der Kanzler."
„Tut nix," sagte darauf der Bauer, „was Er noch nicht ist,
das kann Er ja noch werden!" C. T.

Die Bestellung, die der Zauberer Nzzema aus-
richtete, kann sehr gut auf Verabredung beruhen.
Zwischen den Zauberern der Naturvölker und den
Missionaren herrscht oftmals eine Art Rivalität.
Uzzema wollte dem Missionar offenbar einen Be-
weis von der Macht seiner Götter geben. So lud
er ihn zu einem bestimmten Tag ein, suggerierte
ihm unverdächtig die Bestellung von Patronen, und
während er selbst im hypnotischen Schlaf lag,
richtete ein Helfershelfer, den er vorher instruiert
hatte, mit verstellter Stimme in der Dunkelheit
des Abends den Auftrag aus, wobei er dann noch
als seinen Namen nur den Uzzemas anzugeben
brauchte.
Der Fall des Doktors S. läßt sich unschwer als
Wachtraum erklären, wie solche wiederholt be-
obachtet worden sind. Daß seine Frau die Absicht
hatte, ihm im Schlaf zu erscheinen, kann ruhig an-
genommen werden. Es handelte sich dann eben
hier um ein zufälliges Zusammentreffen, wie man
denn häufig von Angehörigen träumt, sie leib-
haftig vor sich^sieht und mit ihnen spricht, ohne daß
sie sich vornahmen, dem anderen im Schlaf oder
Traum zu erscheinen. -
Das Doppelgängertum der Lehrerin Sagöe end-
lich in dem Mädchenpensionat ist zweifellos auf
eine sogenannte Massenpsychose zurückzuführen. Der-
artige geistige Ansteckungen, namentlich bei jugend-
lichen und darum, leicht erregbaren Personen, sind
allbekannt. Wahrscheinlich war die Lehrerin Sagse
hysterisch veranlagt, die, um sich in ein romantisches
Licht zu setzen, die Mädchen selbst erst auf den Ge-
danken brachte, daß sie an verschiedenen Orten zu-
gleich auftreten könne. Darauf deutet wenigstens
ihre Bemerkung hin, daß ihr Doppelgängertum
nun schon zum neunzehnten Male offenbar werde.
Selbst wenn Hysterische aus ihrem Verhalten Nach-
teil erleiden, tut ihnen dies nichts, sobald nur ihr
krankhafter Trieb befriedigt wird. In den Mädchen-
köpfen aber wuchs dann der Glaube an das Doppel-
gängertum ihrer Lehrerin immer mehr, sobald nur
der erste Keim davon in sie gelegt worden war.

MsnnigMiges.
Die Vorahnung. — Es war am 30. Mai 1770, als Paris
bei der Verheiratung seines Königs glänzende Feste feierte.
Baron Montigny mit seiner jungen Frau gedachte sich diese
Festlichkeiten auch anzusehen; doch als die Stunde kam, machte
die Baronin Einwendungen: sie habe Kopfweh, fühle sich so
abgcmattet, auch werde sie von finsteren Ahnungen erfüllt,
wenn sie an dieses Fest denke. Der Baron suchte ihr die trüben
Gedanken auszureden: „Du bist jung und schön," sagte er,
„und führst dabei ein Leben wie eine Nonne. Du bist schwer-
mütig, und ich möchte dir also eine Zerstreuung unbedingt ver-
schaffen."
„Dringe nicht weiter in mich," erwiderte die junge Frau,
„du hast vielleicht recht, aber auch ich habe nicht unrecht. Es
gibt Gefühle, die sich nun einmal nicht wegweiscn lassen. Auch
bin ich in der Tat leidend und möchte lieber zu Hause bleiben,
als mich unter das Menschengewühl mischen."
Montigny setzte seiner Gemahlin mit dringenden Bitten und
endlich mit Borwürfen zu; er verbarg ihr seinen Unwillen nicht
und entlockte dadurch ihren schönen Augen Tränen. Kaum
aber sah er diese fließen, als er wieder entwaffnet wurde, sich
 
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