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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 48.1913

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Heft 3
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https://doi.org/10.11588/diglit.47352#0062
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54
Mer die Lehnsbestimmungen äußerte er sich
ganz kurz. Schriftstücke zeigte er überhaupt nicht
und wich, wie es Leo vorkam, allen eingehenden
Fragen und Erörterungen beinahe verlegen aus.
„Da du Ines heiratest, ist ja alles in Ordnung."
Mit diesem Schlußsatz schnitt er jede Auseinander-
setzung ab.
Dabei blieb's denn auch. Im Grunde war's
Leo auch lieber, mit Ines im Garten zu sitzen oder
über die jetzt abgemähten Stoppelfelder zu reiten,
statt mit dem alten Murrkopf in verstaubten Akten
herumzusuchen.
Das Reiten machte Ines große Freude. Leos
Pferd ging tadellos. Ein Neitkleid besaß sie selbst,
und den Sattel lieh Heilwig. Da das Vergnügen
also keine Neuanschaffungen erforderte, so hatte
der alte Oertzin nichts dagegen. Mehr Mühe kostete
es, ihn zur Beschaffung einer Aussteuer zu be-
wegen, denn zu seinem Ärger weigerte sich Ines
hartnäckig, seinen Vorschlag anzunehmen und nut
den überflüssigen Möbeln aus Rotenwalde ihre
Häuslichkeit einzurichten. Um jeden Hundertmark-
schein gab's eine Auseinandersetzung, bis das junge
Mädchen erklärte, sie würde vorläufig gar nichts
bestellen, sondern auf der Hochzeitsreise in London
alles Notwendige kaufen.
Der Alte schalt über die vermutlich unsinnigen
Preise und hohen Transportkosten, aber Ines blieb
fest dabei, nur auf in England gekauften Stühlen
sitzen, in englischen Betten schlafen zu können.
Leo stellte sich auf ihre Seite. Warum sollte
sie denn nicht ihre Zimmer mit englischen Chippendal-
möbeln einrichten, von Wedgwoodporzellan essen,
wenn ihr das solch Vergnügen machte?
„Ich sehe schon, du wirst schön unter den Pan-
toffel kommen," grollte der alte Oertzin. „Immer
gibst du ihren Einfällen nach."
„In Kleinigkeiten schon," entgegnete Leo ruhig.
„In wichtigen Fragen hoffe ich meinen Willen durch-
zusetzen."
„Wollen's abwarten. Diese englischen Dickschädel
rennen immer gegen die Wand," brummte der alte
Herr mißvergnügt.
Seine Laune wurde täglich schlechter. Schon
seit längerer Zeit fühlte er sich nicht wohl, ohne
Appetit und matt. Aus Geiz wollte er aber keinen
Arzt kommen lassen, so sehr auch Leo in ihn drang.
Seines Unwohlseins wegen konnte der alte Herr
nicht an der Parchower Treibjagd teilnehmen, die
Diersbrock in diesem Herbst früher als sonst gab.
Ines, die in Deutschland noch keine Jagd mit
angesehen hatte, sagte zu, mit Leo hinauszufahren,
um von seinem Stand aus alles genau beobachten
zu können. Später sollte in Parchow gespeist wer-
den.
Am Morgen des Jagdtages sah der alte Oertzin
sehr leidend aus. Ines erbot sich, bei ihm zu bleiben;
als der alte Herr aber erklärte, lieber allein sein zu
wollen, war sie recht froh, einen ganzen Tag von
Rotenwalde fortzukommen.
Die Jagd interessierte sie lebhaft — die lange
Kette der Treiber, die die angstvoll flüchtenden Hasen
immer enger einkreisten, die Schützen in ihren oft
etwas räubermäßig aussehenden Jagdanzügen, das
Knallen und Knattern der Schüsse. Sie stand ganz
still hinter ihrem Bräutigam auf seinem Stand.
Der aufrauschende Wind legte ihr den dunklen
Tuchrock eng um die schlanken Glieder. Auf ihrem
blonden Haar saß ein Filzhut mit gebogener Krempe
und kecker Vogelfeder.
„Aufgepaßt — ein Fuchs!" schrie einer der
Schützen vom Nebenstand laut.
Leo fuhr auf. „Das wär' ein Dusel, wenn Meister
Reinecke gerade bei mir vorbeikäme und ich ihm
eines auf den Pelz brennen könnte!"
„Leo, du denkst doch nicht im Ernst daran, einen
Fuchs zu schießen?" rief Ines entsetzt.
Der junge Offizier wandte seiner Braut eine
Sekunde sein Gesicht zu. Maßloses Erstaunen
spiegelte sich darin. „Weshalb denn nicht?" Er
legte das Gewehr an. Denn der Fuchs, der erst
nicht recht wußte, wohin er sich wenden sollte in
seiner Angst, halb rasend gemacht durch die laut
mit den Klappern lärmenden Treiber, nahm jetzt
wirklich die Richtung auf Leos Stand zu.
„Weil man in England keine Füchse schießt,
sondern sie nur hetzt," entgegnete Ines leiden-
schaftlich. „Ein Herr, der einen Fuchs schösse, wäre
in England in der Gesellschaft einfach unmöglich!"
„Nun, ich bin kein Engländer, und mich kümmert
es gar nicht, was die englische Gesellschaft darüber
denkt."
Schüsse krachten von den Nebenständen her.
Überall knatterte und knallte es.
„Leo!" Ines umklammerte den Arm des Bräu-
tigams. „Ich verbiete dir zu schießen."
Ein dröhnendes Lachen hinter ihnen ließ Ines
zusammenschrcckcn und den Arm ihres Bräutigams

V35 Such fül- MIe ---.. .
freigebeil. Diersbrock, der in diesem Treiben nicht
mehr mitschoß, um die Treiber zu beaufsichtigen,
stand so dicht bei ihnen, daß er die in vollem Zorn
hervorgestoßenen Worte deutlich hörte.
„Weshalb in aller Götter Namen darf denn
der arme Leo auf einer Treibjagd nicht schießen?"
„Schießen darf er schon, aber keinen Fuchs.
Einen Fuchs schießt man nicht, den hetzt man."
„Für den Fuchs dürfte die eine Todesart ebenso
angenehm wie die andere sein. — Leo, wagst du
diesem energischen Verbot deiner Braut zu trotzen?"
Statt jeder anderen Antwort legte der junge
Offizier das Gewehr an und zielte. Ein Doppel-
schuß krachte. Als der Rauch sich verzogen hatte,
sah man, daß der Fuchs noch lief, aber unsicher und
taumelnd. Eine Sekunde blieb er stehen, dann fiel
er auf die Seite und rührte sich nicht mehr. Der eine
Schuß war ihm in das Schulterblatt gedrungen,
der andere hatte den linken Hinterlauf zerschmettert.
„Bravo!" lobte Diersbrock.
Leo setzte das Gewehr in Ruh. „Ja, der hat
sein Teil. — Ines, verzeih, aber das mußte sein."
Seine Augen lachten sie an, aber sie drehte ihm
empört den Rücken, ohne zu autworten.
Von den nächsten Ständen riefen die Herren
Leo Glückwünsche zu. Auch die kleinen Diersbrock-
schen Jungen, die zwischen den Treibern umher-
liefen, kamen herbei und riefen jauchzend: „Onkel
Leo hat einen Fuchs geschossen! — Onkel Leo,
was machst du aus dem Fell?"
„Pudelkappen für euch zwei Affen."
„Pelzkappen wollen wir nicht. Tante Ines
soll einen Muff haben. — Was, Tante Ines, möchtest
du nicht einen Muff mit einem langen Fuchs-
schwanz?"
„Ich würde ihn wegwerfen." Das junge Mäd-
chen raffte ihr Kleid hoch. Jede Falte des auf
Seide gearbeiteten Rockes knisterte förmlich vor
Empörung. Ihr reizendes Gesicht unter dem
braunen Filzhut sah blaß und hochmütig aus.
„In England würde jede Dame sich schämen, den
Pelz eines geschossenen Fuchses zu tragen."
„Aber man schämt sich nicht, seinem Bräutigam
deswegen eine Szene zu machen?" fiel Leo ein.
Er fing an, sich über Ines zu ärgern, und stand nicht
wie sonst völlig über der Sache. „Ich muß gestehen,
daß ich müde bin, ewig zu hören, was man in
England richtig oder unrichtig findet. Jedenfalls
bist du in einem großen Irrtum befangen, liebe
Ines, wenn du glaubst, daß ich in Zukunft meine
Handlungen nach deinen englischen Vorurteilen
richten werde."
„In vielem scheine ich mich geirrt zu haben,"
entgegnete Ines hochfahrend, „jedenfalls darin,
daß dir an meiner Meinung etwas liegt, oder daß
du beabsichtigst, auf meine Wünsche Rücksicht zu
nehmen."
„Auf deine Wünsche gern. Aber nicht auf
lächerliche englische Vorurteile."
Ines schlang ihre lange Federboa fester um den
Hals und wandte sich zum Gehen.
„Wo willst du hin?" fragte Leo rasch.
„Nach Parchow zu Heilwig. Ich habe genug
von der Schießerei. Es könnte noch einmal ein
Fuchs herauskommen, und ich habe keine Lust, eine
solche Schlächterei ein zweites Mal mit anzusehen."
Leo antwortete nicht. Mit ärgerlichen: Aus-
druck zuckte er die Achseln, als das junge Mädchen
wirklich kurz entschlossen den Rückweg antrat. Sie
wollte die kleinen Jungen mitnehmen, aber die
entwischten ihr und mischten sich wieder unter die
Treiber. Ehe nicht der letzte Schuß gefallen war,
verließen sie sicher nicht das Feld.
Ines ging allein. Das Knattern der Schüsse
klang hinter ihr her. Sie ärgerte sich unbeschreiblich
über Leo, der es wagte, ihrem so bestimmt aus-
gesprochenen Wunsch zu trotzen. Am liebsten hätte
sie sofort ihre Verlobung gelöst. .Wie konnte sie
einen Mann heiraten, der jeder Sitte ins Gesicht
schlug und ganz kaltblütig einen Fuchs schoß! Pfui!
Aber ihre Heirat nut Leo blieb das einzige Mittel,
um bald aus dem verhaßten Rotenwalde fort und
nach England zu kommen. Befand sie sich erst einmal
in London in Tante Marys und Muriels Schutz,
dann war alles gut. Die würden ihr helfen, ihr
Leben zurechtzurücken.
Muriels Briefe klangen in letzter Zeit durchaus
nicht befriedigt, weder von dem Stand der Frauen-
frage noch über Ines' so rasche Verlobung. „Ich
fürchte, Du hast übereilt gehandelt, meine liebe Ines,"
schrieb sie im letzten Brief. „Als Frau bist Du ge-
bundener wie als Mädchen. Warum fragtest Du mich
nicht? Dringend würde ich Dir geraten haben,
noch zu warten. Wir steuern hier einer Ent-
scheidung zu, und wie die ausfüllt, davon hängt
unendlich viel ab für jede einzelne von uns. Wir
haben eine erneute Eingabe an öen Premierminister
gemacht. Weigert er sich nochmals, sic entgegen-

liest Z
zunehmcn, so veranstalten wir eine Massendemon-
stration. Ines, in diesen schicksalschweren Tagen
fehlst Du mir sehr. Aber ich will Dich uicht quälen,
Du hast Dich selbst unwiderruflich fest an Deutschland
gebunden, Du armes Kind."
Ines' Lippen zuckten schmerzlich, als sie an diese
Worte dachte.
Ganz allein stand sie auf dem flachen Felde.
Der Wind ging über die Stoppeln, riß und pflückte
an den Federn ihrer Boa. Am Himmel zuckte ein
matter Sonnenstrahl aus grauen Wolken, um kaum
aufleuchtend wieder zu ersterben. Ines fröstelte.
Sie ging rasch dem Gutshause zu, dessen roter
Giebel durch die Bäume schimmerte. Das Laub
hing nur noch dünn und lose an den Asten.
Heilwig kam ihr erschrocken entgegen. „Ines —
schon zurück? Die Jagd kann doch noch nicht zu Ende
sein! Den Kindern ist doch nichts zugestoßen?"
Sie wurde so blaß vor Schreck, daß Ines sie
schnell über das Wohlbefinden der Jungen beruhigte.
„Ich wollte sie dir gern mitbringen, Heilwig, aber
sie sträubten sich."
„Sie laufen eben zu gern mit und sehen zu."
„Wie man Füchse schießt!" fiel Ines in so bitte-
rem Ton ein, daß Heilwig sie erstaunt ansah. Aber
als Ines ihr Leos „unverzeihliches Benehmen" ge-
schildert hatte, verteidigte Heilwig den Bruder so
lebhaft, daß Ines geringschätzig meinte: „Du bist
eben auch deutsch und kannst mich deshalb nicht ver-
stehen."
„Ja, gut deutsch sind Leo und ich. Kannst du
uns das verdenken? Sei lieb, Ines, trag Leo diese
Geschichte nicht nach. Er hat ein weiches Herz,
ihm tut jeder Streit, jedes bittere Wort weh."
„Vielleicht verzeihe ich ihm, wenn er mich darum
bittet und fest verspricht, nie wieder einen Fuchs
zu schießen," meinte sie endlich. Sie kam sich selbst
sehr großmütig vor.
„Das verspricht Leo sicher nicht," antwortete
Heilwig betrübt. „Hier in der Gegend richten die
Füchse viel Schaden an und müssen abgeschossen
werden."
„Warum reitet ihr denn keine Fuchsjagden?"
„Das Gelände ist wenig dazu geeignet. Außer-
dem hat niemand in der Gegend eine Meute."
„Welche Jammerwirtschaft! In England hält
sich fast jeder Gutsbesitzer eine." Ines reckte ver
üchtlich ihr Näschen in die Luft. „Wolltest du übrigens
ausgehen, Heilwig?"
„Ja. Ich wollte ins Dorf zu einem kranken
Kind. Kommst du mit oder bist du zu müde?"
Ines dachte nach. Sollte sie sogleich allein nach
Notenwalde zurückfahren, um Leo zu bestrafen?
Aber der Gedanke an den einsamen, langweiligen
Nachmittag mit dem verdrießlichen alten Vater war
zu entsetzlich. Dadurch schädigte sie sich nur selbst
am schwersten. „Ich komme mit dir, Heilwig,"
entschied sie.
Sie gingen über den Hof. Aus einer offenen
Scheune drang das eintönige Summen der Dresch-
maschine. Die Dorfhäuser sahen sehr freundlich
und sauber aus. In den Stuben freilich schlug
ihnen stickige Luft entgegen. Der Boden war
nicht gedielt, sondern festgestampfter Lehm. Die
verräucherte Decke hätten sie mit der Hand erreichen
können. Aber vor den kleinen Fensterscheiben
blühten bunte Geranien und Fuchsien in üppiger
Pracht. Das breite Bett in der Ecke, die Teller,
Töpfe und Tassen auf den Borten an der Wand
machten einen ganz behaglichen Eindruck.
Das kranke Kind lag in rotgewürfelten Feder-
betten versteckt und schlief. Eine alte Großmutter
hockte daneben mit ihrem Strickstrumpf. Bei dem
Eintreten der Herrin fing sie sofort eine lange Kran-
kengeschichte an, von der Ines keine Silbe verstand.
Heilwig stellte die mitgebrachten Saftflaschen
ans den Tisch und beschrieb der Alten genau, wie-
viel sie davon dem Kinde zu trinken geben sollte.
Sie schob auch das dicke Federbett weiter zurück
und legte einen kalten Umschlag auf das glühende
Köpfchen des kleinen Patienten, trotzdem sie genau
wußte, daß die Alte, die mißtrauisch ihrem Be-
ginnen zusah, sobald sie den Rücken wandte, das
schwere Federbett wieder Heraufziehen und den
Umschlag abnehmen würde, damit der Kleine sich
nicht verkühle.
„Gegen diesen Unverstand, das; nur Wärme und
Schwitzen hilft, ist nichts zu machen," meinte Heilwig
resigniert.
Sie schickten sich eben an fortzugehen, als in
der nebenanliegenden Wohnung ein Mordspek-
takel losging. Ein Mann schimpfte laut. Eine Frau
zeterte in weinerlichem Ton dagegen.
Heilwig blieb erschrocken stehen. „Was ist denn
bei Wittes los?" fragte sie die alte Frau.
„Er wird wohl betrunken sein," meinte Frau
Ticlsch, die auch aufmerksam lauschte. Der Zank
ihrer Nachbarn interessierte sie lebhaft, aber bc-
 
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