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Zeitschrift des Bayerischen Kunstgewerbe-Vereins zu München: Monatshefte für d. gesammte dekorative Kunst — 1890

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Heft 3/4
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Haushofer, Max: Die gesellschaftliche Sitte in ihrem Zusammenhang mit Kunst und Kunstgewerbe: Vortrag, gehalten im bayerischen Kunstgewerbe-Verein am 5. November 1889
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https://doi.org/10.11588/diglit.6755#0023
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Kopfleiste von einem Ehrendiplom für Sc. Excellenz Herrn Generalintendanten Baron von Perfall.
Entworfen und gezeichnet von Prof. Fr. Brochier, Nürnberg.

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in ihrem Zusammenhang mit Linnst und Runstgeiuerbe.

Vortrag, gehalten iin bayerischen Aunstgewerbe-Verein ain 5. November H889 von Prof. Dr. illflt Dausborer.

«J

Sitte

}as ist Sitte? Ls ließen sich mancherlei Erklär-
ungen für diefei: Begriff geben und die Auf-
gabe ist nicht ganz leicht, die richtige Erklärung
ausfindig zu machen.

~ Sitte — wird man zunächst denken — ist
ane cgel für menschliches Thun. Ganz richtig. Aber

ami find wir noch lange nicht fertig. Es gibt mancherlei
e^e 'Itr "^"ichliches Thun; auch solche die keine Litte
sm . utc Polizeivorschrift oder ein Gesetz sind ebenfalls

Aegeln für menschliches Thun, ohne deshalb Sitte zu sein;

"" em Menschen sein Gewissen vorschreibt, ist auch

'U~C-mU -^^^Thun, aber durchaus nicht immer Sitte,
ii müssen uns also genauer ausdrücken.

*c r, ift e'Ue für menschliches Thun, inso-

fern als es sich um ein solches Thun handelt, das im gesell-
schaftlichen Zusammenleben sich äußert, was der Mensch
sur sich ganz allein thut, geht die Sitte nicht an. wenn
Zemand m ganz einsamer Wildniß nackt herumlaufen will,
st ad. durchaus nicht gegen die Litte; denn die Einsamkeit
ettnt keine Sitte, wenn er aber in solchem Tostüm auf
einei hauptstädtischen Promenade sich sehen ließe, würde die
Sitte gleich ganz bedeutend ihr Väschen rümpfen.

b "eben der Sitte noch andere Regeln für das
™en fK''' ^un‘ Sitte grenzt nämlich nach der einen
-eite NN an as Gesetz, nach der anderen Seite hin an die
10 c' as schreibt auch Regeln für menschliches

Ehun vor; aber diese Regeln sind viel zwingender, als jene
der Sitte, wer von den gesetzlichen Bestimmungen abweicht,
den straft die Staatsgewalt; wer von den Bestimmungen
der Sitte abweicht, den straft die Gesellschaft oder sie straft
ihn auch nicht, je nachdem sie der Fall interessirt und je
nachdem sie geneigt ist, ein Auge zuzudrücken oder aber in
tugendhafte Entrüstung auszubrechen.

Nach der anderen Seite, wenn man sich so ausdrücken
darf, nach der leichten Leite hin grenzt die Litte an die
Mode. Die Mode umfaßt den beweglichsten Theil der Litte;
sie schreibt auch Regeln vor; aber ihre Regeln können noch
viel häufiger straflos überschritten werden, als jene der Litte.

Die Vorschriften der Litte sind durchaus nichts unbe-
wegliches. wie wir selbst bei den geschriebenen Latzungen
des Rechts werdendes und vergehendes Recht unterscheiden,
so ist das in noch reicherem Maße der Fall bei den unge-
schriebenen Latzungen der Litte. Die Litte ist noch flüssiger
als das Recht; immerfort sehen wir Einzelnes von ihr ent-
stehen, Anderes vergehen. Manches, was am Anfänge des
gegenwärtigen Jahrhunderts noch Litte war, ist jetzt veraltet;
manches haben wir selber neu entstehen sehen, wir können
beobachten, wie manches, was früher blos Litte war, mit
der Zeit so viel Halt und praktische Brauchbarkeit gewinnt,
daß es zur obrigkeitlichen Vorschrift wird, und wie ander-
seits manches, was man seinerzeit für eine flüchtige Mode
hielt, zur festgewurzelten Litte geworden ist.

Zeuschrif, des bayer. Nunstgewerbe.Vereins München.

Heft äü.-t (8g. 0- 1890.
 
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