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Brunn, Heinrich von
Geschichte der griechischen Künstler (Band 1): Die Bildhauer — Stuttgart, 1889

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https://doi.org/10.11588/diglit.4968#0097

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H. Grössere Ausbreitung und Streben nach freier Entwickelung, von Ol. 60—80. 93

auch das Wohlgeordnete und Anständige (svara'/.kq Y.al v.öaumv! der Gewandung
nehme man von der Sosandra, nur dass unser Ideal das Haupt unverhüllt haben
soll." Ihre wahre Bedeutung gewinnt aber diese Schildarung, wenn wir ver-
gleichen, was an den Werken anderer Meister vorzugsweise gelobt wird: an der
Venus des Praxiteles das Haar, die Stirn, die Zeichnung der Augenbrauen nebst
dem schwimmenden Ausdrucke der Augen; an der Venus des Alkamenes die
Wangen, die Ansicht des Gesichtes von vorn, dann die Extremitäten, Hände
und Füsse; an der lemniscben Athene des Phidias der Umriss des Gesichts,
die Weichheit der Wangen, die Proportion der Nase, an seiner Amazone der
Mund und der Nacken. Alle diese Lobsprüche nun beziehen sich auf einzelne
Heile des Körpers oder, strenger genommen, auf die Formen derselben, das
Lob der Sosandra dagegen auf den Gesammtausdruck, die ganze Haltung. Selbst
°ei der Gewandung ist es nicht die Feinheit der Ausführung, der schöne Bruch
der Falten, was hervorgehoben wird, sondern das Einfache, Ungeschminkte, und
Nan möchte es auch hier wiederholen, das Keusche der Anordnung. Jenes
züchtige Lächeln aber, erinnert es uns nicht an die milde Grazie derjenigen
Werke der neueren Kunst, welche der höchsten Entwickelung derselben zu
Raphaels Zeit vorausgehen? Würden wir nicht den Ausdruck in den Werken
e'nes Perugino, Francia, oder um auch von der Sculptur zu reden, eines Mino
da Fiesole als ein ^ei8iutta atfivuv y.al '/.i'/.r^us bezeichnen können? Diese
Künstler aber ringen nicht weniger mit der Freiheit der Form, als Kaiamis, von
dem Cicero i) und Quintilian-) sagen, seine Werke seien zwar weicher, als die
des Kanachos, aber keineswegs frei von Härte.

Was also in der Erzählung des Plinius ein Widerspruch zu sein schien,
das vereinigt sich schliesslich, um uns von der Eigenthümlichkeit des Kaiamis
ei" lebendigeres, anschaulicheres Bild zu gewähren. Kaiamis, der in der Bildung
der Rosse deinem künstlerischen Gefühle freien Lauf lassen darf und desshalb 131
die Stufe hoher Vollendung erreicht, lässt sich in der Bildung der Menschen-
gestalt durch die Vorurtheile, das Herkommen seiner Zeit noch Fesseln anlegen.
Aljer so wie in einer Zeit, welche dem Verfalle der Kunst durch die Rückkehr
2l'r Kindheit derselben einen Damm entgegensetzen will, der Künstler sich nie
die alte Einfalt ganz anzueignen vermag, sondern sich durch eine Menge einzelner
2iige verrathen wird, welche nur einer vollkommen ausgebildeten Kunst an-
gehören können, so wird in einer Zeit, welche einer höheren Entwickelung zu-
stl'ebt, trotz alles Festhaltens am Hergebrachten der Künstler sich getrieben fühlen,
auf die Verfeinerung, sei es der Form, sei es des Ausdrucks, eine stets wachsende
Sorgfalt zu verwenden. In welcher Richtung dies bei Kaiamis der Fall war, ist
ßei Gelegenheit der Worte Lucians bereits angedeutet. Eine weitere Bestätigung
gewährt uns Dionys von Halikarnass. In seiner Schrift über Isokrates3) ver-
glicht er diesen Redner mit Phidias und Polyklet in Hinsicht auf Ernst, Würde
u"d Erhabenheit, und setzt ihn dem Lysias entgegen, der wegen seiner Zierlich-
st und Anmuth (njg JlCTrrffijroe ivtxa y.ai rijq yaQiToc) mit Kaiamis und Kalli-
machos^) auf einer Stufe stehe: jene seien glücklicher im Grossartigen und

I . l) Brut. 18. -) XII, 10, 7. 3) p. 95 Sylb. 4) Diese beiden Künstler werden auch
01 Gregor von Nazianz (in Tollii Itiner. Ital. p. 60) zusammengestellt, wo offenbar für den
 
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