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Brunn, Heinrich von
Geschichte der griechischen Künstler (Band 1): Die Bildhauer — Stuttgart, 1889

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https://doi.org/10.11588/diglit.4968#0150

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14(i

Die Bildhauer.

reinigt ist. Noch mehr aber liegt in diesem Ausdrucke der Begriff der Schärfe,
der Präcision. Wir verlangen ny.oijaa namentlich vom Gesetzgeber und vom
Richter. Denn da Gesetz und Recht die Grundpfeiler aller staatlichen Ordnung
sind, so muss das Gesetz scharf, fest und bestimmt umrissen, das Recht in der
schärfsten, strengsten Anwendung des Gesetzes ertheilt werden. Fassen wir das
Wort in dem Urtheile über Pbidias in der gleichen strengen Bedeutung, so ge-
winnen wir dadurch einen schönen Gegensatz zu dem ^syaXelov. Das Gross-
artige der Idee setzt auch Grossartigkeit der Form voraus. Aber gerade in dem
Streben nach dieser schwindet leicht die Feinheit und Schärfe, und macht einer
mehr massigen, tlieils zu schwülstigen, theils zu verschwimmend weichen Be-
handlung Platz. Als Beispiel dafür mag uns ein berühmtes Werk dienen,
welches lange als ein Muster des grossen, hohen Styles gegolten hat: der Herakles-
Torso des Belvedere. Und wer wollte auch jetzt noch die Grossartigkeit der
Anlage läugnen? Aber vergleichen wir ihn nur mit dem llissos oder dem so-
genannten Tbeseus des Parthenon, so wird sich Niemand des Eindrucks er-
wehren können, dass die einzelnen Formen, namentlich in ihren Begrenzungen,
der Schärfe und Bestimmtheit entbehren, dass die elastische Spannung, das
lebensvolle Ineinandergreifen der Muskeln fehlt, und an die Stelle kräftiger
Fülle häufig Geschwollenheit und Gedunsenheit getreten ist. Alles aber, was
hier mangelt, das finden wir im höchsten Grade der Vollendung an jenen Fi-
guren des Parthenon. Hier meinen wir wirkliches Leben zu schauen, hier
glauben wir im Stande zu sein von jedem Theile nach seinem Zwecke, nach
seiner Zusammengehörigkeit mit dem Ganzen uns volle, klare Rechenschaft zu
geben. Wir bewundern, wie sich diese Figuren, gleich einer tadellosen Pflanze
aus dem Saamenkom, aus der Idee des Künstlers entwickelt haben. Da sind
keine üppigen Auswüchse, aber eben so wenig irgend eine Dürftigkeit be-
merkbar, sondern alles ig tu axoi^gorarov seinem eigensten Wesen, seinem
innersten Zwecke entsprechend. Wir loben nicht Einzelnes, die Symmetrie, die
Eurythmie, die Proportionen: wir finden diese Vorzüge alle vereinigt, aber keinen
in so hervorstechender Weise erstrebt, dass dadurch die Darstellung der Ideen,
die harmonische Entfaltung derselben nach allen Seiten hin hätte beeinträchtigt
werden können. Die Reinheit der Formen war nicht etwa, wie in dem Kanon
des Polyklet, selbst Zweck, sondern nur das Mittel zur Erreichung eines höheren
Zweckes. Gerade durch dieses Einhalten bestimmter Schranken, welches alle
dem vorgesetzten Zwecke fremden Reizmittel absichtlich verschmäht, erhalten
wir den Eindruck einer höheren Wahrheit, und gerade dadurch macht sich diese
Wahrheit, weil ohne störenden Beigeschmack, nur um so bestimmter und reiner
fühlbar.

Wenn wir sonach das Wesen der Formenbildung bei Phidias in dem Unter-
ordnen der Form unter die Idee erkannt haben, so wie in der Erfüllung aller
der Forderungen, welche von Seiten der Idealbildung an die Form gestellt werden
können, so ist damit natürlich nicht ausgeschlossen, dass auch in seinen Werken
manche Einzelnlieiten durch den hohen Grad ihrer Vollendung die Bewunderung
des Beschauers noch besonders herausfordern konnten. Und in der That bleiben
uns noch einige solche Lobsprüche zu betrachten übrig, die sich indessen keines-
wegs als im Widerspruch mit unserer obigen Auffassung befindlich. vielmehr
 
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