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Brunn, Heinrich von
Geschichte der griechischen Künstler (Band 1): Die Bildhauer — Stuttgart, 1889

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https://doi.org/10.11588/diglit.4968#0226

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222

Die Bildhauer.

Myron sowohl. als des Polyklet insofern eine ideale genannt werden musste,
als sie auf der Beobachtung der unveränderlichen Gesetze der organischen
Schöpfungskraft beruhte mit Beseitigung alles dessen, was nur eine zufällige
oder augenblickliche Wirkung ausübt. Von der letzteren Art sind aber alle
Erregungen des Gemüthes und Gefühles: so sehr sich dieselben auch körperlich
äussern, so wenig sind sie doch etwas in der körperlichen Form Verharrendes
oder auch nur nach Belieben zu Wiederholendes. Schon deshalb ist ihre An-
wendung in der Plastik nur in sehr beschränkter Weise zulässig, weil ein
Widerspruch darin liegt, diesen flüchtigen Formen in den festen Stoffen der-
selben unveränderliche Dauer zu geben; während die Malerei wegen der Natur
der Farben, und wegen der Möglichkeit, eine Handlung ausführlicher zu nioti-
viren, es eher wagen darf, auch vorübergehende Stimmungen zur Darstellung
zu bringen. Diesen wesentlichen Unterschied der beiden Schwesterkünste scheint
auch Euphranor noch deutlich empfunden zu haben: Bilder lebhaften Affectes
finden wir unter seinen plastischen Arbeiten nicht. Hören wir indessen das
Lob. welches seinem Paris gespendet wird, dass sich in ihm alles zugleich
erkennen lasse, der Schiedsrichter der Göttinnen, der Liebhaber der Helena und
doch auch wieder der Mörder des Achill, so werden wir, um die verschiedenen
Eigenschaften unter einander verträglich zu finden, wenigstens annehmen müssen,
dass sich der Künstler in dieser Figur mit Vorliebe der Darstellung des psycho-
317 logischen Elementes zugewendet habe. Eine ähnliche Auffassung war wenig*
stens möglich bei der Gruppe der Leto mit ihren Kindern, sofern wir in der-
selben einen der Momente voraussetzen dürfen, in denen Leto auch nach der
Geburt durch den Hass der Hera noch von Drangsalen verfolgt wird.

Eingreifender indessen, als in dieser Beziehung, scheint sich die verän-
derte Anschauungsweise auf einem andern Gebiete, dem der formellen Darstel-
lung, durch eine Veränderung der bis dahin üblichen Symmetrien oder Propor-
tionen geäussert zu haben. Zwar spricht Plinius von derselben nur bei Gelegen-
heit der Malereien des Euphranor; aber es ist gewiss wahrscheinlich, dass der
Künstler die gleichen Principien auch in seinen Statuen beobachtete. Plinius1)
nun fügt zu der Aeusserung, dass Euphranor eifrig auf Symmetrie bedacht
gewesen (usurpasse symmetriam), folgendes hinzu: ..aber er war in der Gesamnit-
heit der Körper zu schmächtig, in den Köpfen und Gliedern (Armen und Beinen
im Gegensatz zur Masse des Körpers) zu gross." Um diesen Widerspruch
zwischen dem Lobe im Allgemeinen und dem Tadel im Einzelnen zu lösen,
bietet die historische Stellung des Euphranor zwischen Polyklet und Lysipp
die nothwendige Hülfe. Polyklets in sich vollkommen abgeschlossenes System
beruhte auf der Annahme eines mittleren, aber immer noch kräftigen Maasses,
welches sich namentlich in der breiten, „quadraten"' Anlage der Brust und des
ganzen Stammes des Körpers offenbarte. Die nachfolgende Zeit verlangte mehr
Anmuth und Leichtigkeit. Indem aber Euphranor dieselbe dadurch zu erreichen
strebte, dass er gerade die genannten Theile schmächtiger und schlanker bildete,
übersah er, dass. um die Harmonie nicht zu zerstören, eine ähnliche Umbildung
auch bei den äusseren Theilen, dem Kopfe, den Armen und Beinen nothwendig

i) 35, 129.
 
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