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Brunn, Heinrich von
Geschichte der griechischen Künstler (Band 1): Die Bildhauer — Stuttgart, 1889

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https://doi.org/10.11588/diglit.4968#0233

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IV. Die griechische Kunst in ihrem Streben nach äusserer Wahrheit.

229

Wir fragen jetzt weiter nach dem besonderen Charakter dieser Bildungen.
Anstatt indessen, wie bisher, vom Allgemeinen, wollen wir jetzt vielmehr vom
Besonderen, von einer einzelnen Statue ausgehen, und den Maassstab, welchen
Wir durch dieselben gewinnen werden, an die übrigen Werke anzulegen ver-
suchen. Wir wählen dazu die rasende Bacchantin. Die Epigramme über dieses
Bild bestreben sich auszudrücken, dass dasselbe von der höchsten Aufregung
gleichsam durchglüht war: Skopas, der Künstler, hatte seiner Bacchantin grössere
Baserei verliehen, als Bakchos, der Gott selbst; er hatte dem Marmor Seele
eingehaucht; das Bild schien über die Schwelle springen zu wollen. Ausführ-
licher ist Callistratus. Zwar leidet seine Beschreibung in hohem Grade an
rhetorischem Schwulst. Da wir indessen bei dem Mangel anderer Quellen von
Ütt bei der weiteren Beurtheilung des Skopas ausgehen müssen, so scheint es
nothwendig, um einem Jeden die Prüfung unserer eigenen Auffassung zu er-
leichtern, sie hier in ihrer ganzen Ausführlichkeit folgen zu lassen:

„Nicht blos die Kunstwerke der Dichter und Redner athmen Leben, wenn
Begeisterung von den Göttern sich auf ihre Zungen senkt, sondern auch die
Hände der Bildner, von göttlicherem Hauche ergriffen, bringen Schöpfungen
hervor, welche, so zu sagen, besessen und voll sind von Begeisterungsrausch
(faWag). So Hess, wie von einem geistigen Hauche bewegt, Skopas dieses Er-
RUltsein von Gott bei dem Schaffen des Bildes auf dasselbe übergehen. Warum 327
erkläre ich euch aber nicht den Enthusiasmus über die Kunst von seinem An-
fangspunkte an? Es war das Bild einer Bacchantin, aus parischem Stein ge-
bild et, gewissermassen vertauscht mit einer wirklichen Bacchantin. Denn ob-
wohl der Stein innerhalb seiner eigentümlichen Natur verblieb, schien er
doch die Schranke dieser Natur zu überschreiten. Denn was man vor Augen
hatte, war wirklich nur ein Bild; die Kunst aber hatte die Nachahmung bis
zur Wirklichkeit getrieben. Da hättest du sehen können, dass der Stein, ob-
gleich an sich hart, sich selbst wie zum Abbilde weiblicher Natur erweichte,
wenn lebhafte Erregung dieses Weibliche erfüllt; und, wiewohl nach Belieben
sich zu bewegen nicht vermögend, doch bacchischen Taumel verstand und
(leni Gotte, welcher in sein Inneres gedrungen, zu antworten schien. Beim
Anblicke des Antlitzes wenigstens standen wir sprachlos da: in so hohem Grade
Ifeat sich Empfindung kund, trotzdem dass Empfindung nicht vorhanden sein
konnte; und es sprach sich bacchischer Taumel einer Bacchantin aus, obwohl
ein Ergriffen werden von Taumel nicht möglich war. Und alle die Zeichen,
welche eine von Baserei gestachelte Seele an sich tragen kann, alle diese liess
die Kunst durch eine unaussprechliche Verschmelzung durchblicken. Das Haupt-
haar war gelöst, dem West zum Spiele, und zu blühendem Haarwuchs zerlegte
sich allmähli"- der Stein. Was aber am meisten alle Voraussetzung übertraf,
war, dass der Stein trotz seiner Härte sich der Feinheit des Haares fügte, und
der Bewegung der Locken treu folgte und, wenn gleich des lebendigen Wesens
haar, doch Lebendigkeit besass. Man hätte behaupten mögen, dass die Kunst
sogar noch eine Steigerung versucht habe; so unglaublich war, was man sah,
und doch sah man, was sonst unglaublich gewesen wäre. Aber auch die Hände
zeigte uns das Bild in Thätigkeit: zwar schwang es nicht den bacchischen
Thyrsos, aber es trug ein Opferthier, als wolle es laut aufjauchzen, als Symbol
 
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