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Brunn, Heinrich von
Geschichte der griechischen Künstler (Band 1): Die Bildhauer — Stuttgart, 1889

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https://doi.org/10.11588/diglit.4968#0287

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IV. Die griechische Kunst in ihrem Streben nach äusserer Wahrheit. 283

niss älter gewesen, als die des Erzgusses." Hierauf folgen bei Plinius die Nach-
richten über die alten Plasten Damophilos und Gorgasos. Diesen ganzen Zu-
sammenhang anzugeben, schien nothwendig, um zu zeigen, dass die drei letzten
wörtlich angeführten Sätze (von: „derselbe erfand ferner- an) sich nicht auf
Lysistratos beziehen können. Denn wie darf man aus der Erfindung eines
Zeitgenossen Alexanders etwas über das Alter der Plastik und des Erzgusses
folgern? Wie öfter bei Plinius, so scheint auch hier die ganze Stelle über
Lysistratos zuerst als Nachtrag an den Rand, und später ohne Rücksicht auf
den Zusammenhang an einer falschen Stelle in den Text gesetzt worden zu
sein. Die Erfindung des Gypsformens über Bildwerke fällt dadurch dem Butades
zu, welcher sie zuerst zur Darstellung seiner prostypa und ectypa benutzen
mochte; von da aber erscheint ihre Anwendung auf den Erzguss als eine durch-
aus naturgemässe Entwickelung. Was endlich als von Lysistratos gesagt übrig
bleibt, giebt nun einen vollkommen klaren und abgerundeten Sinn.

Wir haben in der Kunst des Lysipp das Streben nach Wahrheit der
äusseren Erscheinung gefunden. Stand dasselbe aber nicht vereinzelt, sondern
war es in der gesammten Richtung des Zeitgeistes begründet, so kann es uns
keineswegs überraschen, wenn einmal ein Künstler von diesem Strome sich bis
zum Extreme fortreissen lässt, und ein vollkommenes Werk gerade dadurch zu
liefern vermeint, dass er uns nur ein möglichst vollkommenes Abbild der Aussen- 404
Seite der Dinge darbietet. Dieses Extrem ist durch das Verfahren des Lysi-
stratos gegeben. Denn wenn auch Plinius von einem Nachbessern (emendare)
des über der Natur geformten Ausgusses spricht, so kann dasselbe, sofern die
erste Arbeit überhaupt einen Zweck haben soll, doch nur bei Einzelnheiten in
Betracht kommen, nicht auf ein vollständiges Durcharbeiten der gesammten
Formen ausgedehnt werden. In dieser Weise aber die Formen der Wirklich-
keit unvermittelt in ein Kunstwerk zu übertragen, das, müssen wir behaupten,
widerspricht dem Wesen der Kunst selbst. Denn ein Kunstwerk kann über-
haupt nur entstehen durch den schaffenden Geist des Künstlers. Freilich kann
es scheinen, dass im Portrait der Künstler zunächst nur das in der Wirklich-
keit Gegebene ohne Zutbat seines eigenen Geistes zur Darstellung zu bringen
habe. Aber wie wir im Leben den Menschen nicht als ein anatomisch-physio-
logisches Präparat betrachten, sondern in den Formen des Körpers eine be-
stimmte, mit Leben und Geist begabte Persönlichkeit erkennen wollen, so machen
wir auch an das Kunstwerk dieselben Ansprüche. Unter diesem Gesichtspunkte
ist also die künstlerische Gestaltung der Form nicht eine reine Nachbildung
dessen, was die Wirklichkeit zufällig darbietet, und darum etwas ihr Unter-
geordnetes, Geringeres; sondern sie hat ihre selbständige Geltung und Berechti-
gung neben der natürlichen Form. Da aber die Kunst nicht in Fleisch und
Blut, sondern in einem unbelebten Stoffe bildet, so kann der Künstler Leben
nur dadurch darstellen, dass er das Bild der darzustellenden, mit Leben und
Geist begabten Personen in seinen eigenen Geist aufnimmt und es aus dem-
selben wiederschafft in einem gegebenen Stoffe und nach den Gesetzen des
Stoffes, in welchem er bildet. So kann und muss allerdings das Portrait in
seiner höchsten Auffassung in einem gewissen Sinne ein Ideal werden, das
Ideal der einen dargestellten Person, indem der Künstler in sein Werk nur die
 
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