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Brunn, Heinrich von
Geschichte der griechischen Künstler (Band 1): Die Bildhauer — Stuttgart, 1889

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https://doi.org/10.11588/diglit.4968#0312

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308

Die Bildhauer.

Stelle der Wahrheit die Täuschung zu setzen. Das iucundum genus wird dem
austerum vorgezogen. Man will vor allem den Sinnen schmeicheln. Gefallen
erwecken; und selbst da, wo jenes ruhige Behagen, jene natürliche Anniuth
einer grösseren Erregtheit weichen muss, geschieht es nicht, um den Geist zu
einer kräftigeren Thätigkeit anzuspannen, sondern um den einer Herrschaft des
Geistes sich entziehenden Kräften der Leidenschaft freien Lauf zu lassen. Frei-
lich dürfen wir bei denjenigen Künstlern, welche zuerst auf diesem Wege zu

440 Ruhm und Ansehen gelangen, noch nicht von eigentlicher Ausartung der Kunst
sprechen; aber in ihrem Wirken liegen die Keime derselben, welche sich schon
unter ihren unmittelbaren Nachfolgern, wie bei Lysistratos, Kephisodotos, voll-
ständig entwickelt zeigen; und vielleicht ist es gerade diesem schnellen und
scharfen Hervortreten zu verdanken, dass man die Gefahr erkannte, und, wenn
auch nicht in die alten Bahnen zurückkehrte, doch der völligen Ausartung
durch Strenge und Selbstbeherrschung vorbeugte, wie wir in der folgenden
Periode sehen werden.

Dieses Urtheil, so hart es lautet, wird doch nicht ungerecht genannt werden
können, sofern wir als Maassstab die höchsten Forderungen der Kunst annehmen,
wie sie in der Epoche des Phidias ihre Befriedigung gefunden hatten. Ganz
anders muss es sich dagegen gestalten, sobald wir diesen Maassstah absoluter
Vollkommenheit aufgeben und nach dem relativen Werthe fragen. Denn sehen
wir von der Kunst der Zeit des Phidias ab, so vermag sich nichts anderes mit
der des Skopas, Praxiteles, Lysipp zu messen. Keine andere Zeit erreicht sie
in der Unmittelbarkeit künstlerischen Schaffens. Wir haben es nicht mit einer
Kunst zu thun, welche sich mühsam aus dem Verfalle, wie von Sehnsucht nach
einer vergangenen Herrlichkeit aetrjeben, wieder emporzuarbeiten strebt, sondern
als unmittelbare Nachfolgerin und Erbin der glänzendsten Epoche, im Besitze
aller Mittel der künstlerischen Darstellung, aus der Fülle des sie umgebenden
Lebens heraus schallt, und, was dieses Leben wünscht und verlangt, künstlerisch
gestaltet. Freilich ist, was diese Zeit bewegt, nicht an sich das Höchste und
Erhabenste; aber sie ist reich in ihrer inneren und äusseren Entwickelung; sie
bringt eine Fülle neuer Ideen und Anschauungen zur Geltung, verlangt die
Befriedigung neuer Anforderungen und Bedürfnisse; und gewährt dadurch auch
der Kunst reichen Anlass zu neuer vielseitiger Thätigkeit. Was diese aber er-
greift, was sie zu leisten unternimmt, das leistet sie ganz; und wenn wir z. B.
dem Lysipp eine hohe poetisch-künstlerische Genialität nicht zuzuerkennen ver-
mochten, so mussten wir dagegen anerkennen, dass er durch seine Hingebung
an die Wirklichkeit in seinen künstlerischen Gestalten die äussere Erscheinung
in ihrer vollsten Lebendigkeit erfasste und darstellte. Dagegen spiegelt sich in

441 den Werken des Skopas der ganze geistige Kampf, welcher diese Zeit erregt
und in Spannung erhält, jener Kampf mit den Mächten des Geschickes, denen
auch das freie Hellas unterliegen musste; während in den Bildungen des Praxi-
teles die anmuthigste Entfaltung des griechischen Lebens verkörpert erscheint.
Mag aber auch die Auffassung vielfach eine sinnliche, auf Aeusseres gerichtete
sein, immer giebt sich der Künstler seinem Gegenstande ganz hin; dieser ist
ihm der Zweck, welchem sich die Mittel der Darstellung unterordnen müssen,
nach welchem sie sich überhaupt bestimmen; nicht benutzt er umgekehrt den
 
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