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Brunn, Heinrich von
Geschichte der griechischen Künstler (Band 1): Die Bildhauer — Stuttgart, 1889

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https://doi.org/10.11588/diglit.4968#0352

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348

Die Bildhauer.

man nun zu unterscheiden anfängt, wie sie dann von jedem Punkt aus, den
man im Herumgehen einnehmen mag, nur wohl zusammengehende Linien dar-

498 bietet, und von jeder Seite eine Ansicht gewährt, ein Ganzes macht, das man
für eine selbständige Gomposition nehmen möchte."

Ich kann nicht umhin, auch in dem Folgendem fast nichts als Welckers
eigene Worte anzuführen, da ich mich doch in der ganzen Auflassung diesem
meinem Lehrer anschliessen muss. Die Seele der Erfindung nun in diesem
Werke der höchsten Virtuosität setzt er in die Wahl des prägnanten Moments,
welcher den nächstfolgenden unmittelbar hervorruft und fast mit Nothwendig-
keit denken lässt. Wir erkennen in der Gruppe mehr, als was das äussere
Auge sieht, nicht bloss die Vorbereitung zur rächenden That, sondern eigentlich
schon die That selbst. ..Es ist wie eine Mine, die im Losgehn begriffen ist:
mit grösster Kunst ist die Gruppe wie gewaltsam in den Augenblick zusammen-
gefasst, wo sie sich auf die regelloseste, wildeste Art entfalten soll. Der Con-
trast dieser Scenen, furchtbare, rascheste, endlose Bewegung als unausbleibliche
Folge eines durch Kraft und Gewandtheit herbeigeführten und glücklich be-
nutzten flüchtigen Augenblicks des Stillhaltens geben dem Bilde Leben und
Energie in wunderbarem Maasse. Und es ist in dieser gewissermassen in die
Gruppe eingeschlossenen Darstellung der Entwickelung selbst eine gewisse Ent-
schuldigung für ihre kühne Aufgipfelung gegeben. Denn das Höchste in einer
gewissen Richtung lässt sich oft nicht erreichen, ohne zugleich die eine oder
cie andere sonst beobachtete Rücksicht hintanzusetzen" (S. 357). War nun der
dargestellte Moment sicherlich der fruchtbarste, welcher für die Gomposition
gewählt werden konnte, indem er in allen Theilen den Moment vor der höchsten
Anspannung nirgends ein Nachlassen oder einen Abscbluss zeigt, so war auch
in Hinsicht auf den geistigen Inhalt eine Steigerung nicht wohl möglich. Ich
erkenne gern mit Welcker den Unterschied zwischen unserer Auffassung mora-
lischer Begriffe und „dem Sinne eines harten, gegen Frevel unbarmherzigen,
in der Rache grausamen Alterthums, das den Sohn nur pries, dem es an Muth
und Zorn nicht gebrach, die Verletzung der Eltern blutig zu ahnden" (S. 3G1).
Die Schleifung der Dirke selbst aber in der Sculptur verewigt zu sehen, würde
trotzdem dem Sinne der Griechen wahrscheinlich noch anstüssiger gewesen sein,
als manchem unserer Zeitgenossen. Wir dürfen das Schrecklichste voraussehen,

499 aber nicht wirklich schauen. Ja, in der Tragödie des Euripides, welcher die
Künstler wahrscheinlich in der Auffassung der Sage folgten, „wirkte vermuth-
lich die Beschreibung des Boten von dem Martertode der Dirke weit schauder-
hafter, als das Bildwerk wirkt, in welchem der Kampf der Heldenjünglinge mit
dem Stier gross und gefahrvoll genug ist, um den Schauer, welchen die rührende
Geslalt der Dirke einflüsst, zu zerstreuen."

Freilich, fahren wir mit den Worten Welckers fort, „zu leugnen ist dabei
nicht, dass die Kunst, nachdem einmal durch die Tragödie die Schreckbilder
der alten Sage hervorgerufen waren, ihr Augenmerk nicht auf die Grösse und
Tiefe der Ideen, sondern auf das Ausserordentliche der Erscheinungen richtete,
und dass man in ihren Werken nicht das Philosophische, sondern das Künst-
lerische aufzusuchen hat. In dieser Hinsicht möchten der Laokoon und der
Stier nah verwandter Art sein: thierische Gewalt in furchtbarer Ueberlegenheit
 
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