IV. Die griechische Kunst in ihrem Streben nach äusserer Wahrheit. 243
sowie auf den Darstellungen der Wesen aus der Begleitung dieser und anderer
Gottheiten.
In Betracht dieser Analogien werden wir. wenn wir überhaupt das Unter-
scheidende der beiden Künstler auffinden wollen, mehr in Einzelnheiten eingehen
und untersuchen müssen, unter welchen verschiedenen Gesichtspunkten sie ver-
wandte Aufgaben aufgefasst und behandelt haben. Und da natürlich auch für
Praxiteles gilt, was wir bei Skopas über ein blosses Anschliessen an die Muster
der vorhergehenden Kunstepoche gesagt, so werden wir unsere Untersuchungen
am besten an ein Werk knüpfen, welches gewiss deshalb zu so ausserordent-
lichem Ansehen gelangt ist, weil es der geistigen Eigentümlichkeit des Künst-
lers am meisten entsprach, nemlich die knidiscbe Aphrodite. Eine Reihe von
Epigrammen können wir zunächst ganz unberücksichtigt lassen 1). Sie enthalten
nichts als Variationen auf das Thema: Praxiteles müsse die Göttin selbst gesehen
haben, nicht schöner könne sie dem Paris erschienen sein; der Stein sei Fleisch
geworden u. s. w. Wichtiger sind uns die Schilderungen Lucians an zwei ver-
schiedenen Stellen, welche sich gegenseitig ergänzen. Die erste -) enthält Fol-
gendes: ..Die Göttin steht in der Mitte des Tempels, aus parischem Stein das
schönste Kunstgebilde, hoch erhaben und den Mund ein wenig wie zu leisem
Lächeln öffnend. Ihre ganze Schönheit steht frei da, kein Gewand umhüllt sie,
nur bedeckt sie wie unwillkürlich die Schaam mit der einen Hand. So weit
aber erstreckte die bildende Kunst ihre Macht, dass durch sie die Widerstand
leistende und harte Natur des Steins für alle Glieder passend erschien." Nach-
dem darauf der Erzähler sich nach der hinteren Thür des Tempels gewendet
hat, um von dort aus den Rücken der Göttin zu beschauen, geräth namentlich
der eine seiner Begleiter, welcher nach Lucians Schilderung diesen Theilen seine 347
besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden pflegte, in lebhaftes Entzücken. Er preist
nicht nur die Eurhytfamie zwischen den Schultern, die fein abgemessenen Rhyth-
men des Hüftgelenkes und der Schenkel bis herab zum Fusse, sondern auch
die Behandlung der fleischigen Theile, die Linien ihrer Umrisse, ihre Anfügung
an die Knochen, sowie ihre wohlberechnete Fülle und Rundung. — Die zweite
Stelle ist dieselbe, welche uns schon mehrfach beschäftigt hat, weil in ihr die
einzelnen Schönheiten mehrerer anderer Musterwerke griechischer Kunst ange-
geben werden3). So heisst es darin von der kindischen Aphrodite: „Von ihr
niöge zu dem gewünschten Musterbilde nur der Kopf genommen werden, da sich
von dem übrigen Körper wegen der Nacktheit kein Gebrauch machen lässt. Die
Parti] ien um Haar und Stirn und die schöne Zeichnung der Augenbrauen bilde
man wie Praxiteles, und ebenso befolge man in Darstellung des Feuchten, so wie
des hellen Glanzes und der Freundlichkeit der Augen dasselbe Vorbild . . . Das
Alter aber, nach welchem Maasse soll es wohl angenommen werdenV gerade
wie bei der. Knidierin; und darum richte man sich auch hierin nach Praxiteles."
In diesen Schilderungen Lucians mögen wir immerhin von der stark sinn-
lichen Färbung, namentlich bei Beschreibung der hinteren Seite, etwas in Ab-
zug bringen; dennoch bleiben sie bezeichnend genug, wenn wir sie mit den
l) Anall. I. p. 1C5, n. 8—9; p. 170, n. 9—10; p. 193. II. p. 14. n. 31: p. 308, n. 2—3;
III, p. 200, 245, 248. Auson. ep. 57. 2) Amor. 13. 3) imag. 4.
sowie auf den Darstellungen der Wesen aus der Begleitung dieser und anderer
Gottheiten.
In Betracht dieser Analogien werden wir. wenn wir überhaupt das Unter-
scheidende der beiden Künstler auffinden wollen, mehr in Einzelnheiten eingehen
und untersuchen müssen, unter welchen verschiedenen Gesichtspunkten sie ver-
wandte Aufgaben aufgefasst und behandelt haben. Und da natürlich auch für
Praxiteles gilt, was wir bei Skopas über ein blosses Anschliessen an die Muster
der vorhergehenden Kunstepoche gesagt, so werden wir unsere Untersuchungen
am besten an ein Werk knüpfen, welches gewiss deshalb zu so ausserordent-
lichem Ansehen gelangt ist, weil es der geistigen Eigentümlichkeit des Künst-
lers am meisten entsprach, nemlich die knidiscbe Aphrodite. Eine Reihe von
Epigrammen können wir zunächst ganz unberücksichtigt lassen 1). Sie enthalten
nichts als Variationen auf das Thema: Praxiteles müsse die Göttin selbst gesehen
haben, nicht schöner könne sie dem Paris erschienen sein; der Stein sei Fleisch
geworden u. s. w. Wichtiger sind uns die Schilderungen Lucians an zwei ver-
schiedenen Stellen, welche sich gegenseitig ergänzen. Die erste -) enthält Fol-
gendes: ..Die Göttin steht in der Mitte des Tempels, aus parischem Stein das
schönste Kunstgebilde, hoch erhaben und den Mund ein wenig wie zu leisem
Lächeln öffnend. Ihre ganze Schönheit steht frei da, kein Gewand umhüllt sie,
nur bedeckt sie wie unwillkürlich die Schaam mit der einen Hand. So weit
aber erstreckte die bildende Kunst ihre Macht, dass durch sie die Widerstand
leistende und harte Natur des Steins für alle Glieder passend erschien." Nach-
dem darauf der Erzähler sich nach der hinteren Thür des Tempels gewendet
hat, um von dort aus den Rücken der Göttin zu beschauen, geräth namentlich
der eine seiner Begleiter, welcher nach Lucians Schilderung diesen Theilen seine 347
besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden pflegte, in lebhaftes Entzücken. Er preist
nicht nur die Eurhytfamie zwischen den Schultern, die fein abgemessenen Rhyth-
men des Hüftgelenkes und der Schenkel bis herab zum Fusse, sondern auch
die Behandlung der fleischigen Theile, die Linien ihrer Umrisse, ihre Anfügung
an die Knochen, sowie ihre wohlberechnete Fülle und Rundung. — Die zweite
Stelle ist dieselbe, welche uns schon mehrfach beschäftigt hat, weil in ihr die
einzelnen Schönheiten mehrerer anderer Musterwerke griechischer Kunst ange-
geben werden3). So heisst es darin von der kindischen Aphrodite: „Von ihr
niöge zu dem gewünschten Musterbilde nur der Kopf genommen werden, da sich
von dem übrigen Körper wegen der Nacktheit kein Gebrauch machen lässt. Die
Parti] ien um Haar und Stirn und die schöne Zeichnung der Augenbrauen bilde
man wie Praxiteles, und ebenso befolge man in Darstellung des Feuchten, so wie
des hellen Glanzes und der Freundlichkeit der Augen dasselbe Vorbild . . . Das
Alter aber, nach welchem Maasse soll es wohl angenommen werdenV gerade
wie bei der. Knidierin; und darum richte man sich auch hierin nach Praxiteles."
In diesen Schilderungen Lucians mögen wir immerhin von der stark sinn-
lichen Färbung, namentlich bei Beschreibung der hinteren Seite, etwas in Ab-
zug bringen; dennoch bleiben sie bezeichnend genug, wenn wir sie mit den
l) Anall. I. p. 1C5, n. 8—9; p. 170, n. 9—10; p. 193. II. p. 14. n. 31: p. 308, n. 2—3;
III, p. 200, 245, 248. Auson. ep. 57. 2) Amor. 13. 3) imag. 4.