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Die Dioskuren: deutsche Kunstzeitung ; Hauptorgan d. dt. Kunstvereine — 7.1862

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https://doi.org/10.11588/diglit.13516#0231

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war namentlich der Fall bei Quatremere de Qu in cy,
welcher glaubt, ein Mars habe an ihrer Seite gestanden;
Graf Clarac dagegen stellte einen Paris neben sie. Herr
Tarral dagegen gründet seine Restauration aus authentische
Marmor-Bruchstücke, die er im Museum des Louvre ansge-
funden hat, und die zu dieser Venus von Milo gehören.
Deren Vorhandensein war bereits ganz in Vergessenheit ge-
rathen, da sie vor 40 Jahren (1821) von den beiden ge-
nannten Antiquaren als nickt derselben angehörig verwor-
fen worden waren. Diese Bruchstücke sind, die Hälfte des
linken Oberarms, die linke Hand, welche einen Apfel hält
und eine Stele (Pfahl) mit einer Merkurs-Büste. Diese
Bruchstücke hat Herr Tarral ebenfalls in Ghps abgießen
lassen, und die Abgüsse zu seinen Ergänzungen benutzt. Auf
diese Weise hat derselbe eine Venus dargestcllt, welche
ihre Nebenbuhlerinnen Inno und Minerva besiegt. Hoch
hält sie in der linken Hand den Apfel, der ihr zuerkannt
ward durch Merkur, der, ihr zur Seite, mit seiner kleinen
Büste bis an die Hüften reicht. Seit das reiche Cnm-
panische Museum ans Rom jetzt in Paris aufgestellt ist,
hat sich wunderbar eine Bestätigung gesunden. Eine schöne
und große Venus i» Terracotta stellt die Venns in gleicher
Verbindung mit einer Herme dar.

Herr Tarral behauptet besonders aus Rücksicht des
guten Geschmacks, als wahrer Kunst-Kenner, daß es un-
möglich ist, eine andere Gestalt neben diese Venns zu stel-
len, ohne ihrer Schönheit Abbruch zu thnn, wogegenlaber
nur ein nicht höher hinaufreichender Gegenstand den Zweck
vollkommen erreicht, da die Arbeit der Gewandung an der
linken Hüfte der Venus zeigt, daß hier die Ansicht durch
einen Gegenstand verdeckt worden war, indem dieser Theil
unvollendet und nicht in vollständiger Zierlichkeit erscheint.

Auch haben die Künstler an der Stirne der Venus
auszusetzen gefunden, daß sie zu niedrig und nickt voll-
ständig ausgeführt sei. Herr Tarral hat auch diesem
Tadel abzuhelfen gewußt, indem er auf die Kopsbinde der
Venus ein Diavem setzt; ein solches kam ihr als vcr Sic
gerin über die Juno zu. Auf diese Weise gewinnt die Stirn
an größerer Höhe und an Erhabenheit der Ansicht. Herr
Tarral hat dies kleine und einfache Diadem nach einer
Marmor-Büste im Louvre modelliren lassen, die freilich
unvollendet, aber als eine Kopie der Venus von Milo
erscheint, obwohl dieser antike Kopf zu einer modernen
Büste verwendet worden ist, daher er auch nie die Aufmerk-
samkeit der Kunstkenner aus sich gezogen hat. Der Abguß
des Diadems dieses Kopfes paßt sehr gut zu der Stirn
der Venus von Milo.

Dieser fehlt übrigens der linke Fuß; Herr Tarral
hat denselben auf den Helm der Minerva gesetzt, statt daß
man bisher sich mit einem Steine begnügte.

Bei der jahrelangen genauen Beobachtung des Origi-
nals im Louvre hat Herr Tarral zugleich gefunden, daß
dieses Bildwerk, in mehr als natürlicher Größe, aus auf-
fallend vielen verschiedenen Marmorblöcken zusammengesetzt
ist. Was sein Forscherauge entdeckt hatte, veranlaßte ihn
zu näheren Untersuchungen über die Natur des Marmors,
da es ihm auffiel, wie ein solcher Künstler bei dein Mar-
mor-Reichthum Griechenlands nicht einen ausreichenden
Marmor-Block habe finden können. Bisher hat nian all-
gemein geglaubt, die Venus von Milo sei aus parischcm
Marmor, und zwar von dem feinsten Korne. Allein Herr
Tarral beweist,^ daß dies kein Marmor von Paros ist,
sondern derselbe Marmor wie der des Laokoon, der schönen
Psyche zu Neapel und des Pasquino zu Rom. Dieser Mar-
mor ist noch feiner, außerordentlich weiß und gleicht dem
Elfenbein. Herrn Tarral, der beiläufig gründliche phi-
lologische Studien gemacht hat, ist es gelungen, aus der
Naturgeschichte des Plinius nachzuweiscn, wo dieser Marmor
herkommt, nämlich aus Klein-Asien. Er wird von Plinius
Coraliticus genannt, der nur in Blöcken von 2 Armeslängen
gefunden werde, also gewöhnlich von 3 Fuß Länge und
Breite, der aber von außerordentlicher Feinheit sei und ganz

dem Elfenbein gleiche. So ist eben der Marmor beschaffen,
aus dem die Venus von Milo gearbeitet worden, und die
einzelnen Stücke derselben überschreiten nicht die Größe von
3 Fuß. Nach Herrn Tarral zogen die berühmten Bild-
hauer von Rhodus den Coralitischen Marmor dem von
Paros, von Pentelicon und dem von Ephesus vor; wie
Agessandros, der Schöpfer des Laokoon gcthan, welches
Kunstwerk ebenfalls ans wenigstens 8 verschiedenen Blöcken
zusammengesetzt ist; sowie auch Apollonius, der Schö-
pfer dech berühmten Torso vom Belvedere, ebenfalls den
Coralitischen Marmor angewandt hat. Herr Tarral
beweist übrigens aus der Muskulatur dieses Torso, daß
er keineswcgcs zu einem Herkules gehört, welcher aus-
ruht, sondern einen im Kampf begriffenen Herkules dar-
stellt, da dessen Muskeln die höchste Anspannung ^zeigen.
Bei dieser Gelegenheit zeigt Herr Tarral, daß dieser
Gebrauch, die antiken Bildwerke aus mehreren Stücken
znsammenzusetzen, die Veranlassung ward, dieselben zu zer-
trümmern , um sich der kostbaren Bronce zu bemächtigen,
welche außer der Verkittung zur Verbindung der verschie-
denen Stücke gedient hatte. Denn da, wo man die Znsam-
meusetzung bemerkte, wußte man, daß ein Bolzen von
Bronce zu finden war, und so wurde ein solches Glied
abgeschlagen, um dies Metall zu gewinnen, was man bis-
her mehr einem religiösen Fanatismus schuld zu geben ge-
wöhnt war. Die meisten Verstümmelungen antiker Bild-
werke finden sich da, wo Stücke angesetzt waren; wo da-
her auch eine, wenn auch ganz kürze Stange von Bronce
vcrmnthet wurde. Dies kann man am besten an der
Verstümmelung deö Mopas sehen, der aus der Insel De-
los gefunden ward und sich jetzt im Louvre befindet,
an der Psyche zu Neapel, am Torso im Belvedere des
Vatikan und an der Venus von Milo selbst. Bisher
hatte man solche Zusammenfügungen gewöhnlich für antike
Restaurationen gehalten.

Auch der rechte Arm der Venus von Milo und ihr
linker Fuß waren auf dieselbe Weise von dem Künstler
selbst angesetzt worden. Der Oberkörper mit dem Kopfe
bildet ein großes Stück Marmor, der Unterkörper das
andre große Stück; der linke Arm das vierte, die Hand
das fünfte, der rechte Arm das sechste, der Fuß das
siebente und ein Theil des Gewandes an der Hüfte bil-
det das achte Stück Marmor, dessen sich der Künstler
bediente. Die Zusammensetzung ist aber gewöhnlich so
sorgfältig angeordnet, daß sie kaum zu bemerken ist; so
z. B. bilden die kleinen Falten des Gewandes über der
Hüfte eine solche Erhöhung, daß dadurck die Zusammen-
setzung verdeckt wird.

Außer der Gestalt der Venus selbst gehörten dazu
aber auch noch andere Stücke von demselben Marmor.
Herr Tarral beweist, daß sie dem Fußgestell — der Plinthe —
angehört haben, auf welcher sich eine Inschrift befand.
Beide Stücke sind von Milo mit nach dem Louvre ge-
kommen; allein sie sind verloren gegangen. Glücklicher-
weise ist diese Inschrift von den Herren Debay und
Clarac abgcschrieben und 1821 bekannt gemacht worden.
Die ersten vier Buchstabe» dieser Inschrift, welche den
Namen des Künstlers enthält, haben auf dem Marmor
gefehlt, so daß man deutlich nur •••«*'%>$ lesen konnte;
woraus die Gelehrten denn einen Alexandras gemacht
haben; doch beweist Herr Tarral, daß dieser Name Agc-
sandros gewesen, daß diese Venus also von demselben
Künstler herrührt, der den Loakoon geschaffen und den
Plinius AgessandroS den Rhodier nennt, weil er auf Rho-
dns lebte, aber wie gewöhnlich seinen Geburtsort beifügte,
nämlich Antiochia an dem Mäander.

Die Herme an der linken Seite der Venns, welche
sich ebenfalls in den Magazinen des Louvre befindet,
ist von Herrn Tarral ganz künstlerisch neben diese sieg-
reiche Venus gestellt; aber auch hier ist der gewöhnliche
Phallus, weil er von Bronce war, herausgebrochcn
worden. Der Umstand, daß Herr Tarral zugleich tüchtiger

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