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Die Dioskuren: deutsche Kunstzeitung ; Hauptorgan d. dt. Kunstvereine — 17.1872

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https://doi.org/10.11588/diglit.13553#0024

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lebenden Bildern, als plastisches Kunstwerk vorzuführen! Die
lebenden Bilder können uns unmöglich einen reinen Kunstgenuß
verschaffen, sondern höchstens die Sinne reizen. Deshalb müssen
wir auf die rohe Masse, die nur durch das Natürliche gereizt
und sich namentlich zu ihm hingezogen fühlt, die obigen Worte
Goethe's anwenden: sie wollten auf eine natürliche, rohe und
gemeine Weise genießen — wie jene Sperlinge und jener Affe.

Die Schönheit soll uns über die Macht der Natur erheben,
soll uns frei machen von allen sinnlichen Trieben und niedrigen
Leidenschaften, und am allerwenigsten dieselben wecken und fördern.

„Die Natur ist von der Kunst durch eine ungeheure Kluft
getrennt," sagt Goethe in der Einleitung zu den Propyläen, und
in eben derselben Abhandlung an einer anderen Stelle: „Der
echte gesetzgebende Künstler strebt nach Kunstwahrheit, der gesetz-
lose, der einem blinden Triebe folgt, nach Naturwirklichkeit; durch
jenen wird die Kunst zum höchsten Gipfel, durch diesen auf ihre
niedrigste Stufe gebracht." — An den Schöpfungen des reinen
Naturalismus kann unser Auge sich nicht berauschen, unser Herz
sich nicht erquicken.

Wollten Maler selbst in historischen Werken immer völlig
naturwahr sein, so würden sie nicht der Schönheit dienen, weil
die nackte Wahrheit auch in der Geschichte nur in den seltensten
Fällen wirklich schön und ästhetisch ist. Jener Maler, der in
der Auferweckung des Lazarus einen Zuschauer sich die Nase zu-
halten läßt, um den Geruch des Leichnams zu versinnbildlichen,
hat den Zweck der Kunst verkannt, und wir können in Beziehung
auf ein solches Gemälde nur die Worte der Martha wiederholen:
es stinkt!

Bei der Zeichnung einer Landschaft muß der Maler die
chaotische Materie beherrschen, er muß, um Harmonie in das
Ganze zu bringen, die Natur korrigiren, einzelne Partien dis-
lociren und wie ein zweiter Schöpfer Berge ebenen oder er-
höhen, Gewässer bilden oder fortschaffen, Paläste, Hütten und
Brücken bauen. Der Künstler soll die einzelnen Theile in der
Natur zu einem schönen, einheitlichen Ganzen harmonisch ver-
binden, denn nur erst dann kann ein Landschaftsgemälde als
schön bezeichnet werden und Eindruck auf den Beschauer machen.
Ein bloßer Abklatsch der Natur giebt niemals ein nach allen
Seiten hin befriedigendes Landschaftsgemälde.

Aehnlich verhält es sich mit dem Kunstwerk eines Drama's.
Den vollen Genuß eines solchen können wir erst am Schlüsse
desselben empfinden, wenn die Harmonie des Ganzen vollendet
vor unfern Augen, unserer Seele vorübergegangen ist. Wie. dort
die unvollkommene Landschaft, abgesehen von ihrer Naturwirklich-
keit, einen Ungebildeten mehr reizt, als die vollkommenere im
Gemälde, so reizen ihn hier im Drama die einzelnen Theile
auch mehr als die Harmonie des Ganzen, die er selten heraus-
fühlt und heransfindet; denn kaum weiß er, wenn er nicht zu-
fällig die Zahl der Akte auf dem Theaterzettel gelesen hat, ob
das Drama sich abgewickelt hat oder nicht.

Dasselbe gilt von jedem anderen Kunstwerk. Man kann
von solchen Menschen sagen: sie sehen den Wald vor Bäumen
nicht. Es fehlt ihnen, wenn auch nicht das Gefühl für das
Schöne, doch die Uebung. Sie bewundern ein schönes Auge
auf einem Bilde, eine schöne Hand, einen schönen Fuß, ein
meisterhaftes Adergeflecht, das Muskelgebäude, eine herrliche
Draperie — und für die schöne Harmonie des Ganzen haben
sie kein Auge; diese entgeht ihnen und somit auch der voll-
kommene Genuß.

Die Naturwahrheit fällt Jedermann, auch dem Laien leicht
in die Augen, die Erkenntniß der Kunstwahrheit setzt aber
Uebung, Bildung und ein feines Gefühl voraus; und gerade
weil die Natnrwahrheit eines Kunstwerks dem Laien verständ-
licher ist, deshalb hält er sie auch für das höchste Princip in
der Kunst. „O wie natürlich!" ruft er beim Anblick eines von
realistischer Hand verfertigten naturwahren Gemäldes entzückt
aus, ohne zu wissen, daß diese Kritik allein noch lange kein
Lob für das Kunstwerk und den Künstler selbst ist.

Werfen wir noch einmal einen Blick auf die dramatische
Kunst, so finden wir, daß die ersten Anfänge derselben die ge-
treuen Nachbildungen geschichtlicher Begebenheiten waren, wie
z. B. die Leidensgeschichte Christi oder die Leiden, die aus-
dauernde Tugend und der endliche Sieg des Hiob.

Die rohe, unwissende Menge kann an dergleichen künst-
lerischen Darstellungen ihren Genuß haben, dem Gebildeten ge-
nügen sie aber nicht. Die Kunst konnte natürlich auch bei diesen
ihren Anfängen nicht stehen bleiben, sondern mußte sich vervoll-
kommnen und dadurch weiter entwickeln, daß sie die Naturwahr-
heit aufgab und sich die Kunstwahrheit als höchstes Ziel stellte.
So mußte die vom religiösen Standpunkte aus zum Drama un-
passende Leidensgeschichte Christi zu einem Epos, die Messiade,
werden.

Mit gänzlicher Hintansetzung oft wichtiger historischer Mo-
mente und auch mit willkürlicher Entstellung der geschichtlichen
Thatsachen sind fast alle großen Dramen entstanden. Die Ge-
schichte ist schon seit undenklichen Zeiten als die dienende Magd
der dramatischen Kunst behandelt worden, und Niemand hat da-
gegen etwas einzuwenden.

Die nackte Geschichte ist, wie schon erwähnt, nicht immer,
ja, man darf dreist behaupten, ist in den seltensten Fällen schön,
wie z. B. die an dramatischen Motiven so reichen Revolutionen,
die — wie Bischer in seiner Aesthetik sehr wahr bemerkt —■
den Scheidewassercharakter an sich tragen.

Räumt man nun aber der Poesie das Recht ein, den Boden
der Naturwahrheit verlassen zu dürfen, dann darf man auch den
übrigen Künsten dieses Recht nicht versagen, und um so weniger,
da die Erfahrung bereits hinlänglich darüber gerichtet hat, daß
auch in ihnen die Naturwahrheit nicht die Wirkung hervorbringt,
die durch die Kunstwahrheit erzeugt wird.

„Der Schein soll nie die Wirklichkeit erreichen,

Und siegt Natur, so muß die Kunst entweichen."
 
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