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Die Dioskuren: deutsche Kunstzeitung ; Hauptorgan d. dt. Kunstvereine — 17.1872

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https://doi.org/10.11588/diglit.13553#0145

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über ein Gemälde anders als ein Maler, ja, innerhalb derselben
Gattung, z. B. ein Historienmaler über eine Landschaft anders
als ein Landschaftsmaler rc. urtheilen, von Musikern, Architekten,
Poeten zu schweigen. Jeder aber wird sein Urtheil für das
„richtige" halten, denn sonst würde er es ja nicht haben. —
So scheint es fast, als ob entweder alle Urtheile richtig seien
oder alle unrichtig — und in der That ist Beides der Fall.
Man kann sagen: es giebt unendlich viel richtige Urtheile, näm-
lich so viele wie es Standpunkte giebt — jeder Standpunkt hat
aber, neben seiner Einseitigkeit (und dadurch ist er unzureichend),
auch seine Berechtigung, und diese Berechtigung ist, objektiv be-
trachtet, eben die Richtigkeit des von ihm aus gefällten Urtheils.

Wie aber ist aus dieser kaleidoskopischen Mannigfaltigkeit
der Urtheile, wobei mit jeder anderen Stellung des Glases, durch
welches Jeder schaut, eine andere Ansicht hervorgerufen wird, zu
einer festen und sicheren Ueberzeugung über das Wesen des
Kunstwerks zu gelangen? — Genau betrachtet, ist dies eigentlich
dieselbe Frage, wie die obige, deren Beantwortung wir vorläufig
abgelehnt haben, nämlich: „Wie hat man ein Kunstwerk zu be-
urtheilen?" Vielleicht giebt die Betrachtung der andern Frage
zuletzt einigen Aufschluß darüber, sofern bei der Schilderung der
verschiedenen Standpunkte auch die Gründe ihrer Einseitigkeit
berührt werden müssen, so daß wenigstens daraus das negative
Resultat sich ergeben möchte, daß gezeigt wird, wie man nicht
zu urtheilen habe. Hier müssen wir uns mit der einen, etwas
paradoxalen Antwort begnügen: Es giebt sehr viele richtige An-
sichten über ein Kunstwerk, aber nur eine einzige wahre, und
diese ist nur von einem einzigen, höchsten Standpunkt möglich,
nämlich von dem der wissenschaftlichen Aesthetik, weil
dieser alle andern begreift, d. h. sie sämmtlich in sich ein- und
dadurch gerade von sich ausschließt.

Wenden wir uns also zur audern Frage und versuchen
wir, einige der hauptsächlichsten Standpunkte in ihrer specifischen
Art und Weise des Urtheilens zu charakterisiren. Eine kurze
Vorbemerkung nur mag uns gestattet sein.

Im Allgemeinen gilt der „Verstand" dafür, das specifische
Vermögen des Urtheilens und Beurtheilens zu sein. Dies ist
ein Jrrthum: auch aus der „Empfindung" heraus urtheilt man,
und es ist nicht gerade immer, oder auch nur häufiger als beim
Verstände der Fall, daß das Resultat ein Vorurtheil ist. Im
Ganzen genommen kann man sagen, daß der Mann mehr mit
dem Verstände, das Weib mehr mit der Empfindung urtheilt,
d. h. zu einer bestimmten Ansicht über eine Sache kommt.
Aber solche abstrakten Gegensätze enthalten nur bis zu einem
gewissen Grade eine Wahrheit; es giebt Männer, namentlich die
genial angelegten, deren Ansichten — wo es sich um Ideen
handelt — als unmittelbare Intuition nicht aus der Reflexion
des Verstandes entspringen; alle echten Künstlerurtheile z. B.
sind Empfindungsurtheile, weil sich der Künstler in den aller-
seltensten Fällen über die Gründe seines Urtheils Rechenschaft
zu geben vermag. Aber auch das echte Laienurtheil ist ein
Empfindungsurtheil, nicht weil der Laie nach keinen Gründen
fragt, sondern weil er erst dann danach fragt, wenn seine An-
sicht, aus der Empfindung geschöpft, bereits feststeht und er nun
Beweise dafür beizubringen bemüht ist. Hier reflektirt zwar
der Laie, aber es ist eine Reflexion xost kestum, d. h. eine

solche, die nicht zur Bildung des Urtheils, sondern vielmehr
umgekehrt, zu welcher das Urtheil geführt hat.

Wenn man die scheinbar ganz regellos zerstreuten Stand-
punkte überschaut, von denen aus die Werke der Kunst betrachtet
und beurtheilt werden können, so ist es nicht ohne Interesse,
nach ihrer relativen Berechtigung zu fragen, d. h. ihre Stellung
zu einander und ihre Grenzen zu bestimmen. Dadurch werden
sie, wie die verschiedenen Klassen der Organismen, gleichsam in
ein System gebracht und jeder an seiner Stelle als nothwendig,
aber natürlich auch als beschränkt erkannt. Dies ist aber nur
möglich von einem Standpunkte aus, welcher, über den Gegen-
satz des Empfindungs- und des Verstandes-Urtheils hinaus sich
stellend, die Elemente beider in sich vereinigt: es ist der Stand-
punkt des Vernunft-Urtheils, d. h. der wahrhaft wissen-
schaftliche.

Jean Paul sagt einmal in seiner „Vorschule zur Aesthetik":
„Die wahre Aesthetik wird nur einst von Einem geschrieben
werden, der ebenso wohl Dichter als Philosoph zu sein vermag";
damit spricht er aus, daß der höchste wissenschaftliche Standpunkt
— und diesen nimmt eben die Philosophie ein — beides, Em-
pfindung oder Intuition und Verstand oder Reflexion, mit ein-
ander in uugetrennter Einheit verbinde. — Lassen wir nun die
Standpunkte des Verstandes-Urtheils, dem fast unsere gesammte
heutige Kunstwissenschaft, namentlich die Tageskritik und die
Kunstgeschichte, angehört, vorläufig bei Seite, um nur die des
Empfindungsurtheils näher zu betrachten. Dieselben haben in-
sofern ein fesselnderes Interesse, als sie, wenn auch nicht immer
ohne Prätension des Alleingeltenwollens, doch eine gewisse Naivetät
und Unbefangenheit zeigen, welche nicht ohne Reiz ist.

Als der allgemeinste Gegensatz — denn diese Standpunkte
bewegen sich, wie wir sehen werden, stets in Gegensätzen, deren
Exponent das verschiedene praktische Interesse ist — dürfte hier
der des Laien und des Kenners zu betrachten sein. Man
wird zugeben, daß darüber hinaus kein allgemeinerer Gegensatz
existiren kann, denn man muß nothwendigerweise das Eine oder
das Andere sein, was jedoch nicht ausschließt, daß man das
Eine, nämlich Kenner zu sein, sich nur einbildet. Als „Kenner"
glaubt sich nämlich Jeder betrachten zu dürfen, der, auf Grund
von positiven Beobachtungen, seien diese nun aus dem Studium
der Geschichte oder aus der durch eigenes Nachdenken unter-
stützten Anschauung der Kunstwerke selbst geschöpft, sich ein —
gleichviel wie beschränktes — Urtheil erwirbt. Hiermit ist aber
bereits das reflektirende Element, von welchem der Laie als
solcher gänzlich frei ist, sofern er sich nur auf seine Empfindung
beruft, in das Empfindungsurtheil eingeführt und dieses dadurch
wesentlich inficirt. Der wirkliche Laie, vorausgesetzt, daß seine
Empfindung zu einer gewissen Feinheit entwickelt ist, hat deshalb,
weil er nur aus dieser allgemein-menschlichen Quelle schöpft, oft
ein weit zutreffenderes Urtheil als der Kenner, der stets besondere
Gesichtspunkte festhält. Der Laie vermag sich zwar über die
Gründe seines Urtheils, aber weil es nur auf Empfindung be-
ruht, d. h. instinctiv ist, keine klare Rechenschaft zu geben; es
genügt ihm, daß er so fühlt, weil er zugleich den Instinkt der
allgemeinen Nothwendigkeit solcher geistigen Intuition hat.

In Hinsicht der Gründe ist ihm nun der Kenner weit über-
legen; ja, es sind hauptsächlich eben nur bewußte Gründe, ans
 
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