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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 33.1913-1914

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Michel, Wilhelm: Lebenswerte der Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.7011#0018

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Lebenswerte der Kunst.

Aber gerade so sicher und gesetzmäßig
kommt auch die Erfüllung der stolzen Zuversicht:

Doch nicht umsonst gesungen und geschrieben
Liegt unsre Sehnsucht in verstaubten Schränken.
Wenn sie erkennen, wie sie arm geblieben,
Dann wird man unsres Reichtums gern gedenken.

Darin liegt denn schließlich die glänzende
Rechtfertigung der Kunst, ihr unschätzbarer
Lebenswert, daß sie jedem das Leben enträt-
selt, das Dasein faßbar macht, seine Summe
zieht. Kunst lebt vom Leben, das heißt sie lebt
von jener Kraft, die im innersten Herzen der
Schöpfung wirkt, die schuld ist am Sein, die
die Welt verhinderte, Chaos zu bleiben. Wir
wissen, daß den Alten diese künstlerische Faß-
barmachung des Daseins so wichtig schien, daß
Homer das dunkle, furchtbare Wort aussprechen
konnte: Es spannen aber die Götter den Men-
schen Verderben zu, damit auch die künftigen
Geschlechter Stoff zum Gesänge hätten. Ein
Wort, nur von starken Zeiten zu erfinden und

zu ertragen. — Selbst wer zu dieser religiösen
und tödlich ernsten Auffassung der Kunst nicht
neigt, selbst wer das Homerische Wort vermessen
findet, dem mag doch mitten in seinem Ringenum
Macht oder Gut bange werden, wenn er sieht, daß
von ganzen Zeiten und Völkern nichts geblieben
ist als ihre künstlerischen Dokumente. Babylon
verging, Ninive sank in Staub, Ägypten ward
zum leeren Namen. Was in diesen Reichen
unzählbare Menschen und Kräfte lebten und
errangen, ward ausgelöscht wie der Strich eines
Schieferstiftes auf einer Schreibtafel. Die Kunst
aber vermochte die Essenz all dieses unge-
heuren Geschehens undEntfaltens zu bewahren,
in einer einzigen Faust des Ramsesbildes, in
einem heraldisch stilisierten Wadenmuskel vom
Standbilde Asarrhaddons, in einem Kapitell
vom Königspalaste zu Susa. Die Kunst fing es
auf, sie hielt es fest, und erst mit der Erde
selbst wird, dank der Kunst, das zu leben auf-
hören, was dem Buchstaben nach längst verging.

JOSEF WACKERLE— CHARLOTTENBURG. DIE VIER JAHRESZEITEN. RELIEF »FRÜHLING
 
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