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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 33.1913-1914

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Michel, Wilhelm: Das Weltanschauliche der Neuen Malerei
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https://doi.org/10.11588/diglit.7011#0048

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Das Weltanschauliche der neuen Malerei.

ERICH STEPHANI FRIEDENAU.

GROSSES RELIEF (TERRAKOTTA).

gemeinsamen geistigen Inhalt der neuen Beweg-
ung zu bezeichnen, so wird man wohl sagen müs-
sen, daß es das kosmische Grundgefühl der
Gegenwart ist, was diese neue Malerei mit allen
Mitteln darzustellen strebt. Damit tritt diese
Bewegung auch weltanschaulich in den Ring
moderner Geistesäußerungen, ohne freilich des-
halb an Anfechtbarkeit einzubüßen. Meine
Ausführungen sollen nur versuchen, alle diese
Erscheinungen von einer neuen Seite her faß-
lich zu machen und einzureihen. Es wird sich
herausstellen, daß hier nicht nur eine charakte-
ristische Benennung dieser neuen malerischen
Weltanschauung gefunden ist, sondern auch
ein Erklärungsgrund für manche Absonderlich-
keit ihrer Äußerungen.

Kosmisch nenne ich die Grundstimmung der
neuen Malerei wegen ihres hohen Gehaltes an
„Panik", wegen ihres problematischen Verhält-
nisses zur Erscheinungswelt, wegen ihrer
strengen Richtung auf das Allgemeine, Univer-
sale und Schematische, wegen ihrer heftigen,
triebhaften Abneigung gegen den Reichtum der
Formen, die Erscheinungsfülle des Lebens.

Wohl ist auch der Mystiker, soweit er
Künstler ist, auf das Allgemeine und Göttliche
in denDingen gerichtet. Allein er unterscheidet
sich vom Kosmiker wesentlich durch seine
Stellung zur Wirklichkeit, zur einzelnen Form.
Dem Mystiker ist die Erscheinungswelt das

Symbol für das Göttliche, ja sogar dessen ein-
zige Offenbarung. Er steht daher zu ihr, also
zur Wirklichkeit, in einem innigen und sehr
liebevollen Verhältnisse. Die Formenfülle der
Schöpfung ist ihm geheiligt durch ihre tiefere
Bedeutung. Jede Form ist als sinnliche Form
etwas Zufälliges; aber jede Form bedeutet
das Allgemeine, das Ewige und Göttliche, und
darin liegt ihre Weihe. Gott ist in den Dingen
und Formen dieser Erde. Der Kosmiker aber
betrachtet die Erscheinungswelt nur als Maske,
als unziemliche Verhüllung des Göttlichen, und
deswegen ist er gegen sie erbittert. Voll Eifer
und Gier sucht er das Gesetz; von Angesicht
zu Angesicht möchte er es erblicken; aber wo
er Sinn und nackte Bedeutung sucht, findet er
immer nur ein Bild. Während der Mystiker
in jedem einzelnen Dinge das Allgemeine, das
Göttliche symbolisch wiederfindet, muß dem
Kosmiker alles Einzelne immer wieder in die
„Weltnacht" entschwinden.

Mystische und kosmische Anschauung sind
so verschieden wie Rembrandt und der späte
van Gogh, wie die Schule von Barbizon und der
— Blaue Reiter. Und zwar liegt der Unterschied,
wie wir sahen, nicht etwa im Verhalten zum
Universellen, zum „Gesetz", denn diesem stre-
ben beide nach; sondern in dem Verhalten zur
Erscheinungswelt, die dem einen als Zunge, als
Sprache „Gottes" unersetzlich wert, dem an-

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