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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 33.1913-1914

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Renatus, Kuno: Unser Verhältnis zum Stil
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https://doi.org/10.11588/diglit.7011#0082

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Unser Verhältnis zum SM.

hinaufstreben, bis
sie sich in die Rip-
pen des Dachgewöl-
bes fortsetzt, oder
mag sie sich in an-
tikisierendemRhyth-
mus in die Gelenke
von Kapital und Ge-
bälk auseinander-
legen. So fühlen wir
über alle historischen
Stilartenhinwegeine
einheitliche Kraft
walten, die sich in
einer unendlichen
Mannigfaltigkeit von
Formen auswirkt —
nur die naturalisti-
sche Zeit war von
dieser Kraft verlas-
sen. — Stilstarke
Zeiten haben stets
das Gefühl für die
Identität dieser Kraft
gehabt. Was will es
doch eigentlich be-
sagen, wie wir es so
häufig antreffen,
wenn z. B. ein roma-
nisch begonnener
Bau gotisch weiter-
geführt worden ist.
Der Bau war doch im
ursprünglichen Stile
einheitlich gedacht,
und die Zeit wußte
wohl, wie sie ihn
darin hätte vollen-
denkönnen. Warum
wich sie ab? Wollte
sie die letzteNeu-
heit bringen? Nein,
die Zeit wußte, daß
aus den neuen For-
men dieselbe Kraft
sprach, nur daß sie
einen neuen und
packendenAusdruck
gefunden hatte, und
sie wußte, daß die
Formen neben den
alten stehen konn-
ten, wenn sie nur,
vom Ethos des Stils
aus gesehen, gut wa-
ren. Der Stilpurismus
ist ein Produkt einer

FRANK EUGENE SMITH LEIPZIG. »SELBSTBILDNIS«

FRANK EUGENE SMITH—LEIPZIG. »EXLIBRIS«
PHOTOGRAPHISCHES SILHOUETTENBILDNIS.

Zeit, die den Stil
rein gedanklich faß-
te , weil sie eine ei-
gene Stilintuition
nicht mehr hatte.
Aber über die Frage
des Purismus sollten
wohl nur die Zeiten
entscheiden dürfen,
die selber Stilhatten.
— Man muß aber
von derartigen Phä-
nomen wie dem ge-
nannten ausgehen,
wenn man erkennen
will, wie Zeiten, die
Stilhalten, eigentlich
Stil verstanden. —
Wir sagten, daß wir
eine Erstarkung des
Gefühls für die Iden-
tität aller stilbilden-
den Kraft zu erken-
nen glauben. Darum
sind wir weniger be-
sorgt, wenn sich die
jüngste Zeit wieder
mehr der Beachtung
historischer Vorbil-
der zuwendet. Der
Werkkünstler von
heute wird sich nicht
vor die lächerliche
Frage gestellt fühlen,
ob der gotische oder
der Barockstil der
„schönere" sei, und
in welchem er sich
Fertigkeit erwerben
solle. Wir suchen
heute bei den alten
Vorbildern nicht
mehr Historie, son-
dern Tradition,
was wahrhaftig et-
was ganz anderes
ist. Und da sich
Tradition von heute
auf morgen nicht
herstellen läßt, so
suchen wir in den
alten Werken irgend-
wie die Kräfte zu
spüren, die in aller

Traditionsbildung
wirksam sind. —

DR. KUNO MITTENZWEY.

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