Neuzeitliche Kunst und die Jugend.
JULIUS HESS—MÜNCHEN.
GEMÄLDE »GEWÄCHSHAUS«
wertvollen Stoff, wertvoll nicht bloß vom Bil-
dungsstandpunkt aus, nicht nur aus Gründen
der Stärkung des Nationalgefühles, sondern
wegen der eminent praktischen Bedeu-
tung, die die Kenntnis unserer angewandten
Kunst gerade für die Jugend besitzt. Nicht von
der Jugend der Volksschulen ist die Rede, son-
dern von denjenigen Bildungsstätten, die den
jungen Menschen bis an die Schwelle des
Erwachsenseins führen: Mittelschule, Höhere
Mädchenschule, Seminarien, Handelsschulen
und im Anschluß daran die Hochschulen. Hier
bilden sich die Begriffe, hier die Maßstäbe, hier
der Geschmack. Man denke nur an das eine
große Geschmacksproblem, das jedem Men-
chen einmal gestellt wird: Die Gründung und
Einrichtung eines eigenenHeims! Wie rat-
los , wie richtungslos, wie unorientiert stehen
die sonst so hochgelehrten jungen Männer und
Mädchen dieser Frage gegenüber! Wie oft kom-
men so Ankäufe zustande, die schon nach we-
nigen Jahren schwer bereut werden, weil eben
bei den Eltern wie bei den Kindern die feste
Urteilserziehung fehlt, die allein aus ausgebrei-
teter Kenntnis der vorhandenen Leistungen ent-
springen kann. Der ungeschulte, unsichere Ge-
schmack verfällt eben den Lockungen einer flüch-
tigen Mode viel leichter als der geschulte, der
seines eigenen Urteils sicher ist. Es gibt sicher-
lich keine Erweiterung des Programms der
Mittel- und Hochschulen, die so dringlich, so un-
abweisbar wäre, als die gesteigerte Beachtung
der angewandten Kunst und die damit verbun-
dene Festigung des Geschmacks. Geschmack
ist erfahrungsgemäß ein Produkt der
Schulung. Jenes angeborene Gefühl für
Form, für „Schönheit", von dem man so oft
spricht, gibt es in Wahrheit sehr selten. In der
weitaus größeren Zahl der Fälle ist Sicherheit
des Urteils lediglich das Ergebnis vielfältiger
Berührung mit geschmacklich zu wertenden
Leistungen. Das Urteil verhält sich wie alle
Gaben des Geistes und Körpers: es bedarf
der Übung. Und wenn Mittel- und Hoch-
schule dem Schüler Anhaltspunkte zur Bildung
eines guten literarischen Urteils geben,
warum dann dieser Verzicht auf Geschmacks-
bildung in kunstgewerblichen Dingen? Die doch
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JULIUS HESS—MÜNCHEN.
GEMÄLDE »GEWÄCHSHAUS«
wertvollen Stoff, wertvoll nicht bloß vom Bil-
dungsstandpunkt aus, nicht nur aus Gründen
der Stärkung des Nationalgefühles, sondern
wegen der eminent praktischen Bedeu-
tung, die die Kenntnis unserer angewandten
Kunst gerade für die Jugend besitzt. Nicht von
der Jugend der Volksschulen ist die Rede, son-
dern von denjenigen Bildungsstätten, die den
jungen Menschen bis an die Schwelle des
Erwachsenseins führen: Mittelschule, Höhere
Mädchenschule, Seminarien, Handelsschulen
und im Anschluß daran die Hochschulen. Hier
bilden sich die Begriffe, hier die Maßstäbe, hier
der Geschmack. Man denke nur an das eine
große Geschmacksproblem, das jedem Men-
chen einmal gestellt wird: Die Gründung und
Einrichtung eines eigenenHeims! Wie rat-
los , wie richtungslos, wie unorientiert stehen
die sonst so hochgelehrten jungen Männer und
Mädchen dieser Frage gegenüber! Wie oft kom-
men so Ankäufe zustande, die schon nach we-
nigen Jahren schwer bereut werden, weil eben
bei den Eltern wie bei den Kindern die feste
Urteilserziehung fehlt, die allein aus ausgebrei-
teter Kenntnis der vorhandenen Leistungen ent-
springen kann. Der ungeschulte, unsichere Ge-
schmack verfällt eben den Lockungen einer flüch-
tigen Mode viel leichter als der geschulte, der
seines eigenen Urteils sicher ist. Es gibt sicher-
lich keine Erweiterung des Programms der
Mittel- und Hochschulen, die so dringlich, so un-
abweisbar wäre, als die gesteigerte Beachtung
der angewandten Kunst und die damit verbun-
dene Festigung des Geschmacks. Geschmack
ist erfahrungsgemäß ein Produkt der
Schulung. Jenes angeborene Gefühl für
Form, für „Schönheit", von dem man so oft
spricht, gibt es in Wahrheit sehr selten. In der
weitaus größeren Zahl der Fälle ist Sicherheit
des Urteils lediglich das Ergebnis vielfältiger
Berührung mit geschmacklich zu wertenden
Leistungen. Das Urteil verhält sich wie alle
Gaben des Geistes und Körpers: es bedarf
der Übung. Und wenn Mittel- und Hoch-
schule dem Schüler Anhaltspunkte zur Bildung
eines guten literarischen Urteils geben,
warum dann dieser Verzicht auf Geschmacks-
bildung in kunstgewerblichen Dingen? Die doch
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