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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 36.1915

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Michel, Willhelm: Der Tod des Ästheten
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https://doi.org/10.11588/diglit.8676#0078

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Der Tod des Ästheten.

DANISCHE STICKEREI.

LEIN EN KISSEN IN BALD VRING-ARBEIT.

Verachtung aller außer-ästhetischen Lebens-
ziele, bewußt perverse, d. i. auf den Kopf ge-
stellte Einschätzung der Realität gegenüber den
ästhetischen Kategorien. Ja, der Ästhet kam
in allen Graden und Spielarten vor. Vom leicht
zu durchschauenden Satanisten Schwabinge-
rischer Prägung (der im Kaffeehaus nur Jogurt
mit Himbeereis bestellte, weil das so schön zu-
sammen aussieht) bis zum erlauchten tragischen
Gnostizismus der großen Dandies vom Schlage
Wildes, Beardsleys, Baudelaires. Bald Held
und Ritter der Schönheit, edel und unglücklich
wie Don Quichotte, bald ärgerlicher, genuß-
süchtiger Geck. Im täglichen Leben oft auf-
tretend als vergnüglicher Hanswurst, eben in-
folge der grotesken Überschätzung der ästhe-
tischen „Linie" gegenüber dem harten, wirk-
lichen Leben. Hier einmal das Gute wirkend
als Verfechter ästhetischer Werte bei deren
Bedrohung durch Banausentum oder sonstige
kunstfremde Wertsetzungen, meist aber eine
völlig negative Erscheinung, als Sünder wider
den heiligen Geist der Wirklichkeiten.

Der Ästhetizismus ist ein Erzeugnis proble-
matischer Zeiten. Er beweist, wo er auftritt,

stets eine Störung des Gleichgewichts zwischen
den Werten und Kräften. Er ist nie etwas
Endgültiges, sondern eine Geburt des Zwielichts,
deutend auf eine Vergangenheit, von der er
zehrt, oder auf eine Zukunft, die er unwissent-
lich vorbereitet. Er kommt vor als Zersetzungs-
erscheinung überlebter künstlerischer Kulturen,
aber auch als Wegebahner eines neuen, noch
nicht erstarkten künstlerischen Ideals, das sich
beispielsweise gegen einen platten Nützlich-
keits-Kultus zu wehren hat oder gegen eine
Verquickung mit moralischen, politischen, mate-
riellen Tendenzen. Leistet er so durch Über-
spannung des ästhetischen Anspruches gelegent-
lich Gutes, so bleibt er doch auch dann belastet
mit seinen falschen Wertbegriffen und seinem
durchaus mangelhaften Verhältnisse zur Wirk-
lichkeit. Das Gute entspringt ihm auch dann
nur aufgrund einer Umwertung, die ein kräf-
tiger Entwicklungswille mit seiner Einseitigkeit
vornimmt. — Am achtbarsten ist der Ästheti-
zismus da, wo er als Begleiterscheinung noch
nicht ausgewachsener Kulturen auftritt: hier
erscheint der ästhetische Wert als Ersatz für
die noch nicht erlebten sittlichenWerte.

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