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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 36.1915

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Raphael, Max: Die Wertung des Kunstwerkes
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https://doi.org/10.11588/diglit.8676#0098

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MARIA CASPAR-FILSER MÜNCHEN. GEMÄLDE »FLORENTINER LANDSCHAFT«

DIE WERTUNG DES KUNSTWERKES.

Die psychische Tatsache des Wertens ist im
menschlichen Seelenleben ebenso unmittel-
bar gegeben wie das nicht wertende, stille
Hinnehmen der Gegebenheiten. Daher werden
wir sie bis hinein in die einfachsten, anfäng-
lichsten Gebiete des Geisteslebens vorfinden.
Schon der Begriff der Sinnestäuschung ist nur
durch sie möglich, denn im buchstäblichen Sinne
existiert diese nicht, sondern nur ein Irrtum des
die Empfindungstatsache ausdeutenden Ver-
standes. Eine Analyse des in dem Begriff
vorliegenden Tatsachenkomplexes ergibt uns
dreierlei: eine Beziehung des psychophysischen
Subjektes zu einer Erscheinungsmasse, z. B.
ich sehe den ins Wasser getauchten Stab ge-
brochen; dann ein wertendes Subjekt und
schließlich eine höhere Instanz, die über die
gegebene Empfindung ein Erfahrungsurteil fällt,
d. h. die Erscheinung nach ihrem Sachgehalt
wertet und zwar mit dem Anspruch, allgemein,

objektiv, schlechthin bindend und unwiderruf-
lich zu entscheiden. Eine im Menschen liegende
geistige Kraft erkennt und wertet einen belie-
bigenErscheinungsbestand auf seinen allgemein-
gültigen Wert. Doch ist es klar, daß dieses
Wertungsurteil eigentlich nicht die Empfindung
an sich betrifft; der ins Wasser getauchte Stab
bleibt für das Auge gebrochen, wie sehr uns
auch der Verstand davon überzeugen mag, daß
er tatsächlich ungebrochen ist. Ebensowenig
aber würden wir aus dem rein optischen Bild,
wenn wir keine andere Erfahrungsinstanz hätten,
jemals dahin kommen können, zu wissen, daß
der gebrochen erscheinende Stab in Wirklichkeit
doch ganz und einheitlich ist. Die beiden Er-
fahrungreihen sind an sich unvereinbar und nur
die höhere, d. h. umfassendere Instanz des
Geistes kann sie verbinden.

Diese drei Faktoren bleiben unveränderlich
bestehen, was der Mensch auch werten mag.
 
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