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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 36.1915

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Michel, Willhelm: Der Tod des Ästheten
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https://doi.org/10.11588/diglit.8676#0082

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Der Tod des Ästheten.

zusehen, daß dieses „an-
ständig" offensichtlich
nur ein verkapptes „gut"
bedeutete. Aber mit die-
ser für uns so leicht zu
durchschauenden Selbst-
täuschung fügt er sich
passend in seine Zeit
ein, die eine ausge-
sprochen jugendliche
war, und daher dem
ästhetizistischen Irrtum
lange und ausgiebig ge-
huldigt hat. Gerade das
neunzehnte Jahrhundert
gibt guten Aufschluß über
die Art und Weise, in der
das Ästhetentum sich als
Nachzügler an klassische,
vollmenschlichePerioden
anzuschließen und ande-
rerseits neuen Erstar-
kungen irrend und vor-
bereitend vorauszugehen
pflegt: Ästhetizistische
Züge zeigen sich zu-
nächst klar beim Verfall
des glänzenden Goethe-
schen Zeitalters. Die
Kundgebungen der Früh-
romantik sind erheblich
damit belastet (Friedrich
Schlegel, Novalis, Bren-
tano). Es geschieht dann
das Untertauchen des
Zeitalters in das Verjün-
gungsbad. Beim Auftau-
chen ist alle seine olym-
pische Ruhe und Sicher-
heit dahin, auch alle
Reife und alles tiefe Wis-
sen, mit dem es im
Geiste Goethes geglänzt
hatte. Alles ist im Jung-
brunnen vergessen wor-
den. Nach dem kurzen
und unergiebigen Zwi-
schenspiel des Epigonen-
tums tritt diese Jugend-
lichkeit des Zeitalters
erst mit voller Offenheit
und mit ungeschminkter
Roheit hervor: Materia-
lismus , Naturalismus.
Im ganzen Umkreise des
menschlichen Lebens,
vor allem auch auf dem

EMMY ZWEYBRÜCK. »HALSSCHMUCK IN SILBER«

künstlerischen Gebiete,
muß alles von Grund
aus neu gedacht und
erlebt werden. Folge-
richtig tritt das Ästheten-
tum auf, teils im Rück-
schläge gegen die na-
turalistische Kunst-Ket-
zerei, teils als Lücken-
büßer für die noch nicht
neu erlebten ethischen
Werte. Es kommt auf
allen Gebieten der Kunst
zu einer zwar kurz-
lebigen , aber doch ent-
schiedenen Heraus-Ar-
beitung des ästhetizisti-
schen Standpunktes. Am
faßlichsten ist diese
Stimmung der Zeit in
dem literarischen Nie-
derschlag, den sie fand:
Ch. Baudelaire, J. Barbey
dAurevilly.OskarWilde,
Huysmans, Rimbaud,
Rodenbach und wohl die
gesamte Schule der De-
kadenten. Lauter ein-
drucksvolle , farben-
reiche Gestalten, die alle
unter dem Fluche stehen,
nach dem Höchsten ver-
gebensgestrebt zuhaben.
Seit demZurückfluten der
ästhetizistischen Welle
ist die Luft um die Kunst
und die Kunsterörterung
fühlbar reiner gewor-
den. Man fühlt, daß die
Gegensätze Kunst und
Leben ihrem Gleichge-
wichtszustand entgegen-
gehen. Das neue künst-
lerische Ideal, das im
Werden ist, hat große
Ausdauer und eine allen
Widerständen gewach-
sene Zielstrebigkeit be-
kundet. Es wird sogar,
dafür sprechen alle An-
zeichen , die starke und
gefährliche Sturmflut
dieses Krieges ertragen.
Denn immerhin und
trotz allem: Es ist eine
Überflutung mit Leben.

WII.H. MICHEL—DARMSTADT.

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