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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 36.1915

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Raphael, Max: Die Wertung des Kunstwerkes
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https://doi.org/10.11588/diglit.8676#0099

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Die Wertung des Kunstwerkes.

Doch ist es klar, daß sie nicht so einfach zu
durchauen sein werden, sobald sich das Tat-
sachengebiet, das gewertet wird, in sich kom-
pliziert. Der Verstand, der über das Sinnes-
gebiet objektiv entscheiden konnte, wird sein
Richteramt verlieren müssen, weil wir ja nicht
nur intellektuelle Wesen sind. Die Beziehungen
des Subjektes zur Erscheinung werden inniger,
wesentlicher und umfassender werden, so daß
sie allmählich den objektiven Tatbestand in
seinem Dasein zu verschlucken drohen, um
so eher als dieser immer schwerer festzu-
stellen ist. Das ist so sehr der Fall bei der
Kunst, daß selbst ein so stark nach Objektivität
trachtender Kritiker wie Kant den bedenklichen
Satz formulierte, daß Kunstwertung Geschmack-
sache sei. Jede Beobachtung zeigt uns, daß
der Drang zum Werten dem Kunstwerk gegen-
über um so viel allgemeiner geworden ist, als
die Schwierigkeit, objektive Prinzipien für die
Wertung zu finden, sich erhöht hat. Weder die
Tatsache, daß von jedermann abgeurteilt wird,
noch die andere, daß der Schaffensprozeß selbst
z- T. ein Werten und Wählen ist und so den

Betrachtenden von sich aus zur Beurteilung
herausfordert, läßt sich bestreiten. Noch mehr:
der Künstler glaubt an die Allgemeingültigkeit
seines Werkes und verlangt von allen Betrach-
tern nicht nur ein Urteil in ihrem Genuß, son-
dern das gleiche Urteil: ihr Wohlgefallen. Jede
Beobachtung aber ergibt ferner eine ungeheure
Mannigfaltigkeit der Urteile, von denen jedes
mit dem nachdrücklichen Anspruch auf Allge-
meingültigkeit hervortritt. Wie lösen sich die
hier vorhandenen Widersprüche?

Zunächst: Was werten wir der Kunst gegen-
über? Die Kunst? Nein, unsere Beziehung zur
Kunst! Wir urteilen nicht über die Sache,
sondern über den Eindruck, den die Sache auf
uns macht. Dieser Eindruck ist so stark, trifft
uns so sehr im Wesen unseres Daseins, daß
wir uns aus diesem Beziehungskreis kaum be-
freien können. Sagte mir doch sogar ein Maler
einmal: „Ich sehe wohl ein, daß Cezanne der
größere Künstler ist, aber van Gogh steht mir
näher und darum liebe ich ihn mehr." Diese
Worte zeigen uns den typischen Konflikt zwi-
schen Sach- und Brauchbarkeitswertung. Kein

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