Die Wertung des Kunstwerkes.
CARL CHRISTOPH HARTIG -AACHEN.
»DEUTSCH-BELGISCHE GRENZLANDSCHAFT«
Zweifel, daß diese letztere weit größere Gebiete
umfaßt, als man sogleich wird zugeben wollen.
Denn die Brauchbarkeit muß nicht nur materiell
sein, etwa im Kaufpreis, im Zimmerschmuck,
in der Befriedigung snobistischen Sammlerehr-
geizes bestehen; es gibt auch eine psychische
Brauchbarkeit. Daß hierzu der Erziehungswert
gehört, wird jeder beipflichten, der der Kunst
keinen außerkünstlerischen Beruf aufzwingen
will. Aber auch die Freude, der Genuß als
solcher — an sich genommen — ist subjektiver
Brauchbarkeitswert, was schon daraus hervor-
geht, daß dem Menschen in der Jugend Werke
gefallen, die er im Alter ablehnt, daß er morgens
andere Bilder liebt als am Nachmittag, daß ihm
Werke, die seine melancholische Stimmung mit
schönsten Genüssen stützen, in der Heiterkeit
unerträglich sind; dann daraus, daß alle diese
Schwankungen um so stärker sind, je stofflicher
die Kunstgattung ist, in der Literatur größer
als in der Malerei und in dieser stärker als in
der Plastik. Kurz; das Reich subjektiver Brauch-
barkeitswerte scheint unendlich zu sein, weil
das Kunstwerk immer nur in Bezug auf den
Menschen zu existieren scheint. Und doch hat
diese Mannigfaltigkeit der Wertung für das
Gefühl selbst des Urteilenden etwas Unbefrie-
digendes, herstammend aus der Sehnsucht nach
etwas Unumstößlichen.
Dieser Zwiespalt subjektiver und objektiver
Urteilsmomente liegt in dem Begriff des ästhe-
tischen Urteils stillschweigend ausgedrückt.
Etwas schön finden, heißt äußern, daß es mir
Gefallen, einLustgefühl bereitet. DieFragenach
dem Woher und Warum dieses Gefühles wird
dann aber je nach dem Beruf, der Neigung, der
Erziehung des Beurteilenden mit vermeint-
lich objektiven Elementen beantwortet, etwa:
weil es wahr ist, d. h. Natur illusioniert; weil
es gut gemalt ist, d. h. weil ich an dem Können
des Malers Freude habe; weil es sehr gefühlt
ist etc. So wird das subjektive Urteil — schon
weil man beansprucht, daß ein anderer ebenso
urteilen soll und man hierzu doch nicht aus
dem Gefühl allein das Recht abzuleiten wagt
— zu einem objektiven maskiert. Aber in
diesem Sinne bleibt das Urteil: dies ist schön,
ein subjektives Brauchbarkeitsurteil, dessen
XVIII. Mai 1915. 2
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CARL CHRISTOPH HARTIG -AACHEN.
»DEUTSCH-BELGISCHE GRENZLANDSCHAFT«
Zweifel, daß diese letztere weit größere Gebiete
umfaßt, als man sogleich wird zugeben wollen.
Denn die Brauchbarkeit muß nicht nur materiell
sein, etwa im Kaufpreis, im Zimmerschmuck,
in der Befriedigung snobistischen Sammlerehr-
geizes bestehen; es gibt auch eine psychische
Brauchbarkeit. Daß hierzu der Erziehungswert
gehört, wird jeder beipflichten, der der Kunst
keinen außerkünstlerischen Beruf aufzwingen
will. Aber auch die Freude, der Genuß als
solcher — an sich genommen — ist subjektiver
Brauchbarkeitswert, was schon daraus hervor-
geht, daß dem Menschen in der Jugend Werke
gefallen, die er im Alter ablehnt, daß er morgens
andere Bilder liebt als am Nachmittag, daß ihm
Werke, die seine melancholische Stimmung mit
schönsten Genüssen stützen, in der Heiterkeit
unerträglich sind; dann daraus, daß alle diese
Schwankungen um so stärker sind, je stofflicher
die Kunstgattung ist, in der Literatur größer
als in der Malerei und in dieser stärker als in
der Plastik. Kurz; das Reich subjektiver Brauch-
barkeitswerte scheint unendlich zu sein, weil
das Kunstwerk immer nur in Bezug auf den
Menschen zu existieren scheint. Und doch hat
diese Mannigfaltigkeit der Wertung für das
Gefühl selbst des Urteilenden etwas Unbefrie-
digendes, herstammend aus der Sehnsucht nach
etwas Unumstößlichen.
Dieser Zwiespalt subjektiver und objektiver
Urteilsmomente liegt in dem Begriff des ästhe-
tischen Urteils stillschweigend ausgedrückt.
Etwas schön finden, heißt äußern, daß es mir
Gefallen, einLustgefühl bereitet. DieFragenach
dem Woher und Warum dieses Gefühles wird
dann aber je nach dem Beruf, der Neigung, der
Erziehung des Beurteilenden mit vermeint-
lich objektiven Elementen beantwortet, etwa:
weil es wahr ist, d. h. Natur illusioniert; weil
es gut gemalt ist, d. h. weil ich an dem Können
des Malers Freude habe; weil es sehr gefühlt
ist etc. So wird das subjektive Urteil — schon
weil man beansprucht, daß ein anderer ebenso
urteilen soll und man hierzu doch nicht aus
dem Gefühl allein das Recht abzuleiten wagt
— zu einem objektiven maskiert. Aber in
diesem Sinne bleibt das Urteil: dies ist schön,
ein subjektives Brauchbarkeitsurteil, dessen
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