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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 36.1915

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Raphael, Max: Die Wertung des Kunstwerkes
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https://doi.org/10.11588/diglit.8676#0110

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Die Wertung des Kunstwerkes.

über die Vollkommenheit innerhalb einer
Grenze. So kann z. B. ein Bild von Lieber-
mann neben einem seiner Schüler ein Meister-
werk sein (relative Wertung) und neben einer
Tafel von Konrad Witz zu einer im ersten
Augenblick erschreckenden Unbedeutenheit
herabsinken (absolute Wertung).

Diese Scheidung wird verhindern helfen, daß
sich der Prozeß des Werlens Gebiete aneignet,
die ihm nicht zukommen. Daß Kritiker und
Theoretiker hier ihre Reichsgrenzen oft über-
schritten haben, hatte in der vorigen Generation
eine lebhafte und entschiedene Abneigung gegen
das Werten überhaupt hervorgerufen. Aber da
sich eine psychologische Tatsache auch von Em-
piristen reinsten Wassers nicht vernichten läßt,
so kam die verleugnete überall ungelegen zum
Vorschein, bis man sich bequemte, ihr ein
kümmerliches Dasein zuzuerkennen. Wir
müssen demgegenüber die Grenzen sowohl wie
die große Bedeutung des Wertens festhalten.
Die ersteren liegen darin, daß die Wertung nie-
mals Rezepte für das küntlerische Schaffen
geben, niemals produktive Kraft beanspruchen

kann. Sie legt der schöpferischen Kraft keinen
Zwang, keine Regeln auf, sie urteilt nur, ob sie
sich in dem einzelnen Werk erfüllt hat. Sie
beansprucht nur, das Geschaffene nach seinen
eigenen oder vielmehr nach den dem schöpfe-
rischen Prozeß eigenen Prinzipien zu beur-
teilen. — Aber auch gegen das Subjekt hat das
Werten seine Grenzen. Nicht jedem ist es ge-
geben, seine persönlichen Beziehungen zu einer
Sache, die Brauchbarkeitswerte auszuschalten
und die Sache als Eigenwert zu nehmen. Auf
allen Gebieten haben wir lange Zeiten ge-
braucht, um aus dem erkenntnistheorelischen
Kinderstandpunkt, als seien die Dinge nur für
uns da, herauszukommen. Vor dem Kunstwerk
gelingt es um so schwerer, weil die Kräfte, die
Sache zu erkennen, größer und umfassender
sind. Auch hier gibt es Berufene und Unbe-
rufene, die sich nur nach denselben Prinzipien
legitimieren können, nach denen sie urteilen.
Trotz alledem liegt in der Forderung einer
Wertung des Kunstwerkes nach objektiven
Prinzipien eine Aufgabe, deren Tragweite nicht
hoch genug eingeschätzt werden kann. Denn

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