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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 38.1916

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Jaumann, Anton: Das Auge des Malers, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.8538#0113

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Das Auge des Malers.

Spezialität dar, doch zeichnet es sich weder
durch höchste Genauigkeit der Beobachtung
noch durch einseitige Gefühlsbetonung aus. Es
sieht gewiß mehr und schärfer als ein Laien-
auge, aber nur, wo es sich um bestimmte Eigen-
tümlichkeiten handelt: Feinste Abweichungen
in dem Zug der Linien, geringste Farbspuren,
die winzigen Punkte, aus denen das Geflimmer
dämmeriger Stimmungen besteht, all das be-
merkt der Maler, aber nur, weil und soweit es
ihn als Maler interessiert. Sein Auge ist trai-
niert, in Mischfarben die einzelnen Töne mit
erstaunlicher Genauigkeit herauszusehen, im
Schatten sieht er noch die letzten Splitter des
Lichts und jede Farbe, die da noch in gering-
sten Andeutungen vorhanden ist. — Was für
die formale und farbige Erscheinung von Be-
deutung, was ein Steinchen beiträgt zum per-
spektivischen Bau des Raumes, das sieht der
Maler mit tötlicher Sicherheit, derselbe Mensch,
dem vielleicht eine Karte, ein Plan ein unver-
ständliches Zeichengemenge vorstellt, in dem
er die wichtigsten Linien übersieht. Doch trifft
diese Feinheit des formalen Sehens durchaus
nicht auf alle Maler in gleichem Maße zu, Be-
gabung und Übung haben hierin große Unter-
schiede hervorgebracht. So haben manche, die
jede Schattierung der Farbe wahrnehmen, ab-
solut kein Auge für die Eigentümlichkeiten der
Form, sie sehen sie flüchtig, summarisch, ja
sogar falsch und zeichnen sie ebenso. Nicht
minder groß sind die persönlichen Unterschiede
in den seelischen Reizungen, die das sehende
Auge vermittelt, und in besonders hohem Grade
und vielseitiger Art dem Maler vermittelt. Jede
kleinste Änderung des Farbtones verschiebt
den Eindruck, kaum sichtbare Merkmale einer
Linie können ihren Charakter für das Auge des
Malers wesentlich bestimmen. Die Welt der
Erscheinungen ist dem Malerauge eine Bühne,
geschwängert mit Leidenschaft, mit zarten und
wilden Gefühlen; Kämpfe toben, die ganze
Farbenwelt ist in Bündnisse und Feindschaften
geschieden, von Warm und Kalt, von Licht und
Dunkel, von diesen und jenen Farbgruppen.
Im Lichte sieht das Malerauge einen Himmel
von Seligkeit, Leben, Freude, das Dunkel stiert
ihn an wie der Tod. So sieht es in gewissem
Sinne nicht Formen und Farben, sondern Be-
wegungen, Kräfte, Gefühle, Stimmungen. Doch
gibt es immerhin auch Maleraugen, die es nur
sind vermöge ihrer formal-exakten Ausbildung,
wie es bei dem photographischen Auge Men-
zels der Fall war. Bei andern wieder steigert
sich die seelische Tränkung bis zu krankhafter
Überreizung; diese macht dann zu jeder for-
malen Auffassung und Darstellung unfähig, sie

hindert bei der Kunst wie bei der praktischen
Verwendung des Auges, und wenn sie auch
höchste Wonnen des Schauens vermittelt, künst-
lerisch bleibt sie unfruchtbar und dem psychi-
schen Gleichgewicht gefährlich. —

Nun liegt die Frage nicht fern, ob vielleicht
das Auge des Malers nicht doch gewisse phy-
siologische Merkmale aufweist, die es von den
Augen gewöhnlicher Sterblichen unterscheiden.
Oder anders ausgedrückt: Vielleicht gibt es
eine besondere Konstitution des Auges, die zu
dem Beruf des Malers vornehmlich geeignet
macht. Hat etwa dieses Malerauge eine größere
Zahl von Sehnerven? Oder sind diese noch
feiner gebaut, ist der ganze physiologische Ap-
parat noch exakter, beweglicher, schmiegsamer?
Für eine solche Annahme ist aber keinerlei
Veranlassung gegeben. Noch niemals wurde an
einem Malerauge eine äußerliche Abweichung
von andern Augen entdeckt, und es gibt unter
den Malern ebensoviel Kurz- und Weitsichtige,
wie in andern Berufen. Wir brauchen auch
nicht damit zu rechnen, daß die wissenschaft-
liche Untersuchung je eine solche physiologische
Besonderheit des Malers auffinden wird. Wie
ist es doch ? Wenn der Maler seine Zeitung
liest, sieht er dann die Schrift anders als wir?
Keineswegs, sonst müßten eigene Malerzei-
tungen gedruckt werden. Das Auge des Malers
ist an sich durchaus normal gebaut; das Roh-
material an Sinnesempfindungen, das seine
Seele von dem Augenapparat empfängt, unter-
scheidet sich, rein physiologisch betrachtet,
nicht von dem anderer Menschen. Trotzdem
sieht der Maler, wenn er als Maler schaut, an-
ders, als wenn er die Zeitung liest. Er kann
allerdings auch die Zeitung malerisch sehen,
aber dann ist es mit dem Lesen vorbei. Ge-
nauer gesagt: Der Maler hat nicht zweierlei
Augen, aber hat zweierlei verschiedene Ein-
stellungsweisen. Es bleibt mehr oder weniger
seiner Willkür überlassen, welche Einstellung
er der Erscheinung gegenüber wählen will.
Manchem mag das malerische Sehen bereits so
natürlich geworden sein, daß er sich beim Zei-
tungslesen zur Exaktheit zwingen muß. Doch
ist es dem Maler unmöglich, die malerische An-
schauung, in die sich sein Auge einmal einge-
lebt hat, im Moment zu ändern. Wenn die
Maler also erklären, sie könnten nicht anders
malen, weil sie die Natur so sehen, so heißt
das noch lange nicht, daß ihre Augen erkrankt
sind, mag auch ihre Anschauungsweise uns recht
fremd, gewollt, ja unrichtig vorkommen. Das
Malerauge ist nicht anders gebaut, nur anders
eingestellt als das des Zeitungslesers oder des

Soldaten. (Fortsetzung folgt.) ANTON JAUMANN.
 
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