Vom Schreiben und Lesen.
MAX UN0I.D —MÜNCHEN.
ZEICHNUNG WACHE«
Turmbau zu Babel, in der Kunst sowohl, wie
im öffentlichen Leben.
Wie es feste Gesetze für die Kunst gibt, so
in der natürlichen Folge auch für die Kritik, den
obersten Kunstgenuß. Wie sehr man sie auch
im Augenblick des Summierens, der zusam-
menfassenden Darstellung vergangener Epochen
für unangebracht halten mag, selbst hier sind
sie am Platz. Durchaus jedoch den gährenden
Zeitgedanken gegenüber. Wie der einzelne
nur sich selbst im Werke sucht — so sehr der
Künstler sich auch auf die breite Basis der
Allgemeinheit stellen soll — so hat auch der
Kritiker nur für eine Phase (nicht Richtung) ein-
zutreten. Eben weil alles wächst, sei er der
Fürsprecher des Lebendigen. Die Nachkommen
werden den Standpunkt um genau so weit als
notwendig hinausschieben. Die standpunktlose
Kritik aber ist hohl, auf ästhetischem Gebiet
genau so wie auf politischem. Sie hat die Kunst
noch nie aus dem Jünglingsalter ins Mannes-
alter geleitet. Darum aber handelt es sich in
unseren Tagen. Es gilt einen festen Standpunkt
zur Kunst zu gewinnen, so man voll Vertrauen
die Zukunft erwarten will. Ihn aber vertreten
in unseren Tagen die wenigsten, daher der
geistreiche Dilettantismus in Kunst, Kritik und
Kunstgenuß im allgemeinen. Sind wir erst
wieder zu einer transzendentalen Weltan-
schauung gelangt, es stellen sich die ewigen
Gesetze von selbst ein, auch ohne Religion,
Staat und Kunst in spanische Stiefel zu schnü-
ren. Es wachsen diese Gesetze und wandeln
sich, wie alles Transzendentale nur an einem
materiellen Träger wachsend und in steter
Wandlung in Erscheinung tritt.
Diesen festen Standpunkt, den zur einzigen
Dauerwirkung in der Kunst einmal das in der
Zeit wurzelnde Individuum (Jünglingsalter), zum
andern das über die Zeit hinaus die Verbindung
zum All suchende Individuum (Mannesalter)
einnimmt, soll, wie in der Kritik der Gelehrte,
das genießende, d. h. das lesende Individuum
überhaupt einnehmen. Die letzte Frage heißt
somit: wie sollen wir also lesen? Schöpferisch,
ist die Antwort. Denn dies ist die Betätigung,
die allem Kunstschaffen verwandt ist: So wird
der Genießende zum Fortführer des Werkes.
Weder sollen wir also nur mit dem Verstände
die Werke der Großen betrachten, d. i. kriti-
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MAX UN0I.D —MÜNCHEN.
ZEICHNUNG WACHE«
Turmbau zu Babel, in der Kunst sowohl, wie
im öffentlichen Leben.
Wie es feste Gesetze für die Kunst gibt, so
in der natürlichen Folge auch für die Kritik, den
obersten Kunstgenuß. Wie sehr man sie auch
im Augenblick des Summierens, der zusam-
menfassenden Darstellung vergangener Epochen
für unangebracht halten mag, selbst hier sind
sie am Platz. Durchaus jedoch den gährenden
Zeitgedanken gegenüber. Wie der einzelne
nur sich selbst im Werke sucht — so sehr der
Künstler sich auch auf die breite Basis der
Allgemeinheit stellen soll — so hat auch der
Kritiker nur für eine Phase (nicht Richtung) ein-
zutreten. Eben weil alles wächst, sei er der
Fürsprecher des Lebendigen. Die Nachkommen
werden den Standpunkt um genau so weit als
notwendig hinausschieben. Die standpunktlose
Kritik aber ist hohl, auf ästhetischem Gebiet
genau so wie auf politischem. Sie hat die Kunst
noch nie aus dem Jünglingsalter ins Mannes-
alter geleitet. Darum aber handelt es sich in
unseren Tagen. Es gilt einen festen Standpunkt
zur Kunst zu gewinnen, so man voll Vertrauen
die Zukunft erwarten will. Ihn aber vertreten
in unseren Tagen die wenigsten, daher der
geistreiche Dilettantismus in Kunst, Kritik und
Kunstgenuß im allgemeinen. Sind wir erst
wieder zu einer transzendentalen Weltan-
schauung gelangt, es stellen sich die ewigen
Gesetze von selbst ein, auch ohne Religion,
Staat und Kunst in spanische Stiefel zu schnü-
ren. Es wachsen diese Gesetze und wandeln
sich, wie alles Transzendentale nur an einem
materiellen Träger wachsend und in steter
Wandlung in Erscheinung tritt.
Diesen festen Standpunkt, den zur einzigen
Dauerwirkung in der Kunst einmal das in der
Zeit wurzelnde Individuum (Jünglingsalter), zum
andern das über die Zeit hinaus die Verbindung
zum All suchende Individuum (Mannesalter)
einnimmt, soll, wie in der Kritik der Gelehrte,
das genießende, d. h. das lesende Individuum
überhaupt einnehmen. Die letzte Frage heißt
somit: wie sollen wir also lesen? Schöpferisch,
ist die Antwort. Denn dies ist die Betätigung,
die allem Kunstschaffen verwandt ist: So wird
der Genießende zum Fortführer des Werkes.
Weder sollen wir also nur mit dem Verstände
die Werke der Großen betrachten, d. i. kriti-
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