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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 65.1929-1930

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Michel, Wilhelm: Der künstlerische Mensch und der "Normal-Mensch"
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https://doi.org/10.11588/diglit.9252#0019

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WILH. MALI'-MÜNCHEN

PLASTIK »FAMILIE«

DER KÜNSTLERISCHE MENSCH UND DER „NORMAL-MENSCH"

VON WILHELM MICHEL

Der Künstler — das empfindet Jeder — ist
eine andere Art Mensch als der Nicht-
künstler. Er ist nicht so scharf von diesem ge-
schieden, daß beide sich nicht gelegentlich ver-
ständigen könnten; aber doch so, daß die Denk-
und Fühlweise des Künstlers sich deutlich als
eine eigene, besondere erweist.
Wo liegt der Unterschied ?
Die Zeit liegt noch nicht lange zurück, da
man nach Lombrosos berühmten Ausführungen
das Anderssein des Künstlers in die Nähe des
Wahnsinns glaubte rücken zu können. Da der
Künstler in vielen Zügen nicht der „Norm"
entsprach, schien es einleuchtend, ihn als „ab-
norm zu definieren. Wir sehen die „Abnor-
mität" des Künstlers heute anders. Wir sehen
im Künstler einen „archaischen" Menschen;
einen, der mehr in den Gründen und Abgrün-
den, in den Vergangenheiten und Frühschichten,
in den Dunkelzonen und Naturregionen des
Menschenwesens zuhause ist. Seine „Abnor-
mität" besteht nicht darin, daß sich in ihm das
Menschliche verkehrt, verdreht, verrückt hätte;

er lebt lediglich mehr aus den Grundschichten,
die es in jedem Menschen gibt, aus dem-
selben Unbewußten und Halbbewußten, das
auch des „Bürgers" Leben ernährt — nur daß
der Bürger dieses Nachtleben schärfer von
seinem Tagleben abgegrenzt und in die Tiefe
verwiesen hat. Der „Normalmensch" hat sein
bewußtes Leben genauer abgezirkelt und ein-
geengt, er hat es schärfer von der dunklen
Tiefenschicht geschieden als der Künstler; des-
halb sind sich beide so oft unverständlich und
rätselhaft. Zugleich aber ist diese Tiefenschicht
bei beiden vorhanden; deshalb können sich
beide doch wieder vor dem Kunstwerk, das
der Künstler aus dieser Tiefenschicht herauf-
holt, so oft verständigen.

So kommt dieses sonderbarste aller Verhält-
nisse, das Verhältnis zwischen dem Normal-
menschen und dem Künstler, zustande. Was
sie scheidet, tritt manchmal so lebhaft hervor,
daß der Künstler in einer ganz eigenen Welt zu
leben glaubt. Tragisches Mißverständnis macht
die Wege zwischen der Kunst und dem wirk-
 
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