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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 65.1929-1930

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Wenzel, Alfred: Freiheit und Zwang
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https://doi.org/10.11588/diglit.9252#0080

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PROF. JOS. HILLERBRAM)

»SCHLAFZIMMER«

FREIHEIT UND ZWANG

Lichtenberg hat in einer seiner „Bemerkungen"
j gesagt: „Jede menschliche Seele hat eine
Portion Indolenz, wodurch sie geneigt wird,
vorzüglich zu tun, was ihr leicht wird". Der
Satz gilt heute so gut, wie er damals seine
Richtigkeit hatte, und er gilt für alle Tätigkeits-
gebiete, auch für die Kunst: immer wird eine
gewisse „Neigung" im Künstler nach der
schrankenlosen Freiheit, nach der ganz und
gar unbeschränkten Fessellosigkeit hinziehen,
in deren Zeichen alles Tun „leicht wird". Diese
Neigung mag in jedem Künstler verschieden
stark ausgeprägt sein — kein Mensch gleicht
dem anderen, — aber das Eine sehen wir, wenn
wir die Geschichte und jene Bestände ansehen,
die uns die jeweils wechselnde „Geisteshaltung"
oder „Seelenstimmung" ihrer Epochen, im
„Werk" verdichtet, übermitteln: daß alles wahr-
haft Bedeutsame nie aus solcher Freiheit ent-
sprang, sondern stets nur an Zwang und Wider-
ständen sich reibend und glättend zur überragen-
den Größe emporwuchs. Vielleicht ist es nicht
immer klar zu sehen; das liegt daran, daß das

große Kunstwerk, wie alles Große überhaupt,
in seiner Wirkung so „selbstverständlich", das
heißt: wie „von selbst" und ohne Schwierig-
keiten geworden, vor uns steht; im großen,
reinen Kunstwerk ist nichts von den Wider-
ständen zu spüren, die es zu überwinden galt.

Aber man sehe nur einmal näher hin auf ein
paar der deutlichsten Beispiele: auf die Fugen
Bachs und Händeis und des späten Beethovens,
auf die Terzinen Dantes, auf Formen wie das
Sonett, in dem sich keineswegs nur Formalisten
wie Petrarka oder die Dichter der Plejade,
sondern auch Shakespeare und Michelangelo
„ausdrückten" — (und es seien nur diese Bei-
spiele genannt, weil an ihnen der „Zwang"
deutlicher in die Augen springt als an Werken
der bildenden Kunst, wo die Bindung immer
in einer besonderen und nicht so in kurzem
darzulegenden Verknüpfung mit der Natur be-
steht). Dabei fällt ein Umstand vor allem auf:
während im Bereich der Technik Widerstände
immer nur überwunden werden, wenn man
ihnen nicht mehr ausweichen kann, ist es im
 
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