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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 65.1929-1930

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H. R.: Menschen-Gesichter
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https://doi.org/10.11588/diglit.9252#0250

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CHARLOTTE BEHEND—BERLIN

»KLEINER FISCHERHAKEN.

MENSCHEN-GESICHTER

Ein Menschengesicht ist immer von jenen Ge-
fühlen und Gedanken gezeichnet, die den
betreffenden Menschen am meisten beherr-
schen. Wenn man das beherzigt, so ergibt die
Prüfung von Menschengesichtern ein nieder-
drückendes Resultat. Von Kummer entstellt,
von Eitelkeit verzeichnet, von engen, armen,
kleinlichen Gedanken zusammengezogen — so
sehen die meisten aus, wenn sie sich unbe-
obachtet fühlen. Selbst die Festfreude legt nur
eine leichte, vergängliche Schminke auf solche
Gesichter: man bemerkt oft, daß der Ausdruck
der Freude sich mit gewissen Mienen nicht
mehr organisch zu binden vermag. Und wenn
es in uns allen das Kind ist, an das wir uns
wieder erinnern, wenn eine Freude oder eine
Begeisterung uns in Schwung setzt, so möchte
man sagen: es gibt Gesichter, die völlig ver-
gessen zu haben scheinen, daß sie jemals Ant-
litze von Kindern, Spiegel kindlicher Seelen
waren. Sind die Gesichter von Kindern wie
Gärten, über denen das Licht des vollen Him-
mels leuchtet, so sind jene wie Landschaften,
von denen nie die Wolkendecke schwindet, und
die nur eine indirekte Beleuchtung kennen; Ge-

sichter von Menschen, die sich nie selber „los"
werden können, die jeden Begriff seelischer
Freiheit verloren haben.

Wie aber werden wir uns „los" ? Das ist die
Frage, um die sich so vieles vom menschlichen
Tun bewegt. — Es ist hundert gegen eins zu
wetten, daß die meisten, die sich an niedere
Freuden wegwerfen, die große Freude suchen,
die Befreiung von ihrem engen, schwunglosen,
alltäglichen Ich. Das Mühen im Erwerbskampf,
was bezweckt es anderes als das „Glück", ein
freies, menschenwürdiges Dasein?

Befreiung wird dem Menschen aber nur,
wenn er über sich hinauszugehen weiß, und
dazu bieten sich ihm genug Wege an, auf denen
er nicht Gefahr läuft, über dem Mittel den
Zweck zu versäumen. Die Natur ruft den
Menschen an mit ihrem wunderbaren Wander-
lied, die Kunst ruft ihn an mit ihrer Ver-
lockung in das Bereich des reinen Schauens.
Jede reine Tätigkeit von Tag zu Tag, mit
vollem Einsatz geleistet, bietet sich an, dem
Menschen jene „Selbstvergessenheit" zu brin-
gen, aus der sein wahres Selbst reiner und
gestillter wieder auftaucht.......... h. r.

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