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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 65.1929-1930

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Bredt, Ernst Wilhelm: Tempo des Sehens
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https://doi.org/10.11588/diglit.9252#0068

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TEMPO DES SEHENS

von professor dr. bredt—münchen

Das Tempo unserer Bilderbetrachtung hat
sich ungeahnt gesteigert. Ist selbstver-
ständlich dem, der die Zusammenhänge berück-
sichtigt. Das Tempo hält Schritt mit der Steige-
rung des Bilderangebotes überall und zu allen
Zwecken. Aber erzogen zum neuen Sehtempo
hat uns das Kino; es hat uns erzogen und ver-
wöhnt, ja verführt. — Verwöhnt weil wir das
Tempo der Abrollung des Films gern auf alles
andere Sehen übertragen wissen möchten. Wir
glauben nun irgendwie auch das feste Bild viel
schneller als bisher unseren Augen vorüber
führen zu sollen, um Genuß zu haben. Freilich
viele klagen, daß das Abrollen des Films ge-
legentlich doch zu schnell geschehe, daß über-
haupt zu sehr das Schnelligkeitsideal herrsche
und dies viel verdirbt: Naturforscher und Jäger
eilen über Felsen und durch Urwälder, als ob
es höchste Zeit sei, noch gerade den nächsten
Zug zu erreichen. Wie es auch sei, wir haben
die Erziehung zum rascheren Erkennen aller
Bilder dem Kino zu danken. Freilich diese
vortreffliche Sehschule steht nicht allein, sie
wird durch die modernen Verkehrsmittel nicht
wenig unterstützt, kommt mit diesen in gute
Konkurrenz. Zumal der Selbstfahrer des Autos
wird in jedem Moment zum raschesten Erfassen
der Formen, Vorgänge, Situationen besser er-
zogen, als durch irgend eine Schule sonst. Das
Tempo unseres Sehens hat sich so entwickelt,
daß es Zeit wird, sich über Vorzüge und Mängel
dieser Temposchule des Sehens klar zu werden.
Wer beobachtet, wie rasch durchschnittlich eine
neue illustrierte Zeitung auf die Bilder hin
durchgeschaut wird, wer dann in aller Ruhe
prüft, wieviel Bildermaterial an wertvollem Be-
trachtungsstoff gebracht wurde, kann kaum
leugnen, daß hier von großer Verschwendung
an Bildmaterial zu reden ist. Wir hätten für
unser Geld mehr haben können, bei ruhigerer
Betrachtung. Es kommt mir vor wie die Ver-
schwendung an Heizmaterial, die wir noch
immer treiben, treiben müssen, weil die Feue-
rungstechnik noch nicht so viel erreicht hat in
der Ausnützung des Brennstoffes, wie rationell
wäre. Wer nach einiger Zeit eine früher durch-
blätterte Zeitschrift auf die Bilder hin geruhsam
betrachtet, wird bekennen müssen, daß er an
sehr vielen gebotenen Bilderschätzen und Bild-
anregungen vorbeigesehen hat, obwohl, wie
gesagt, wir alle tüchtig gelernt haben in der
Beschleunigung unseres Sehtempos. —
— Wie ist da zu helfen? Was ist da zu tun?

Zunächst muß zugegeben werden, daß auch
beim alten guten Tempo ruhigerer Bildbetrach-
tung meist gar viel verloren gegangen ist —
wie ja auch bei jeder Lektüre, zumal in den
besten Büchern, vieles, wenn nicht das feinste,
nicht so gelesen wurde, daß es haften bleiben
konnte. Ich habe in meinen Kreisen, die sehr
viel Bilder und Stiche betrachten, festgestellt,
daß allerberühmteste Bilder und Radierungen
noch immer nur von ganz wenigen so gründlich
angeschaut worden sind, daß ihnen nichts Tat-
sächliches, was darauf zu sehen ist, entgangen
wäre. Wer das nicht glaubt, lege einmal eine
der kleinen aber vielfigurigen Radierungen
Rembrandts vor sich hin — (es könnte auch
ein berühmtes Dürersches Blatt sein, etwa
„Ritter, Tod und Teufel" oder die „Melan-
cholie") und beginne einfach zu zählen, wie
viel Figuren vom Künstler wenigstens ange-
deutet wurden, Figuren, die oft sehr wesent-
liches zum Bildinhalt aussagen und für die Kom-
position im Ganzen wichtig sind! Demnach
sind die Fehler unseres Schnellsehens nicht
so überraschend. Aber da wir ganz gewiß das
große Zeitalter des Sehens und Lernens durch
Bilder erst vor uns haben und mit ihm das Zeit-
alter eines neuen B il dun g s t e mp o s,
wird jeder gut tun, bei Zeiten so viel und so
rasch und gründlich Bilder lesen zu lernen, wie
bisher Buchstaben und Sätze.

Es kommt darauf an, das Wesentliche im Bilde
gleichviel welcher Art es sein mag, rasch zu
erkennen, das Unwesentliche auszuscheiden.
Da aber immer der bedeutende Künstler jeder
Epoche das für ihn und seine Zeit Wesentliche
am allerschärfsten zu erfassen und zu formen
wußte, unter Vermeidung alles Unwesentlichen,
ist es geraten, mehr als bisher, Naturbild und
Kunstwerk neben einander und zur Korrektur
gegeneinander zu benutzen. Der Künstler muß
in der Zeit höchsten Tempos im Schauen erst
recht unser Erzieher werden. Denn er hat das
Tempo längst überwunden; sein Sehapparat
fungiert rascher als der der andern. Je mehr
wir von ihm lernen, umsoweniger wird das un-
geheuere Bildmaterial das uns jetzt gebotön
wird, durch uns verschwendet. Das Tempo
gibt zunächst nicht den Ausschlag, aber Ver-
schwendung führt schließlich zum Überdruß.
Und an uns Betrachtern liegts, die ungeheuren
Summen, die jetzt für Illustrationen verausgabt
werden, möglichst vollkommen als ideellen
Gewinn auszunutzen.............e. w. b.
 
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