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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 65.1929-1930

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Michel, Wilhelm: Der künstlerische Mensch und der "Normal-Mensch"
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https://doi.org/10.11588/diglit.9252#0021

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Der künstlerische Mensch ?n/d der »Nor mal-Mensch«

liehen Leban ungangbar und zwingt oft den
Künstler in eine tödliche Vereinsamung. Aber
immer wieder kommt dann die Stunde, da die
Welt staunend und tief ergriffen vor der großen
Kunstleistung steht und durch sie dunkel an
ihr eigenes, tieferes Wesen gemahnt wird. Sie
erkennt, daß das Wort des Künstlers nicht aus
dem nebelhaften Ungefähr kommt, sondern aus
jenen Ur- und Erbschichten, aus denen sich das
ganze Leben speist. Zwar ist mit Recht der
Geist, die kühle Vernunft in unserem Leben
Herr geworden. Aber der Geist darf nicht der-
gestalt herrschen, daß er das Ältere, Tiefere,
Kindlichere in uns vernichtet, sondern nur der-
gestalt, daß er es schonend und voll Ehrfurcht
in einem frommen Dunkel bewahrt. Das schönste
Bild dieses ehrfurchtsvollen Bewahrens hat
uns Äschylos in den „Eumeniden" gegeben.
Die ergrimmten Erdgöttinnen, die als Erinnyen
die älteste Naturmacht darstellen, müssen zwar
von dem gehetzten Orestes ablassen. Die obe-
ren Götter treten ihnen entgegen und setzen
das menschliche Recht an die Stelle der alten,

blinden Rache. Aber — und dies ist der große,
merkwürdige Zug in dieser Dichtung — die
Erinnyen werden nicht aus dem Lande gestoßen.
Sondern sie werden feierlich in die unter-
irdischen Wohnsitze geleitet, wo sie fortan
mit allem Ruhme wohnen sollen, geehrt von
allem Volke, aus dem Tagesleben verwiesen,
doch nicht vernichtet, in der Tiefe weiter-
lebend und segenbringend. In diesem mythi-
schen Vorgang liegt nichts Geringeres als das
heute wieder zu Ehren gekommene Wissen,
daß der Mensch das Frühe, Gründende und
Ursprüngliche seines Wesens wohl aus seinem
Tagesbewußtsein herausstellen, aber keines-
wegs weder abtöten darf noch abtöten kann.
Es muß in ihm weiterleben, aber in der Tiefe.
Es muß in die Tiefe gehen, aber dort weiter-
leben. Und von Zeit zu Zeit muß es von der
Tiefe her in unseren Tag heraufsteigen und uns
mahnen an unsere Ursprünge; und wir müssen
diesen Ursprüngen gegenüber stets eine Treue,
eine Liebe bewahren. Sonst entfliegt unser
Leben und wird ein luftiger Schatten. . . w. m.

XXXIII. Oktober 1929 2
 
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