Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 65.1929-1930

DOI Artikel:
Wenzel, Alfred: Freiheit und Zwang
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.9252#0082

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
FrciJieit und Zwang

prof. jos. hillerbrand »weinservice« deutsche werkstätten

Gebiete der Kunst immer der selbstgeschaf-
fene Widerstand, den man kämpfend bewäl-
tigen will. Die sogenannte „geniale Willkür" ist
nie Fessellosigkeit, sondern eigentlich nur die
Willkür in der Festsetzung des bindenden
Zwanges, — bisweilen kann er bis in die Nähe
des Absurden gehen, wie in der Einheitstheorie
des klassischen französischen Dramas.

Man sucht den Kampf; nur in Epochen
morbider Stagnation weicht ihm der Künstler
aus und will sich's leicht machen. Die „Revo-
lutionen", die in dieser Richtung tendieren,
bedeuten dann, von einer gewissen Distanz her
betrachtet, alles eher als ein Merkmal über-
schäumender Kraft. — Darum spricht es wohl
für uns und unsere modernste Kunst, wenn
wir sie — sachte und langsam zwar, aber mit
einem nicht zu verkennenden Zielstreben —
die Bindungen eines strengeren Zwanges wieder
auf sich nehmen sehen. Jene Gefahr, wie sie
am letzten Ende solcher Wege steht: die Gefahr
des Schemas, des toten Kanons, haben wir wohl
weniger zu fürchten, da die Erfahrungen, welche
eine Kette von Generationen sammelt, den
Nachfolgenden doch irgendwie gegenwärtig
bleiben. — Auch stehen die „Mittel" für die

künstlerische Produktion uns Spätlingen so
reich und ausgebildet bereit, daß wir den
„strengen Zwang" nicht so sehr als eine Übung
brauchen, die uns — mit Nietzsche zu reden —
„mit Grazie selbst auf den schmalen Stegen,
. . . . welche schwindelnde Abgründe über-
brücken", schreiten lehren soll, sondern mehr
als die zuchtvolle Bindung an die Fesseln der
Form überhaupt, ohne die es mitunter Inter-
essantes, aber nie Großes geben kann.

Dabei darf man freilich auch vom betrachten-
den Publikum sagen, daß es — natürlich nur zu
seinem eigenen Besten — seine Erlebnisform
diesen bedeutungsvollen Veränderungen anpas-
sen muß. Schon Nietzsche — und man kann
gerade ihn zitieren, da so viele bei seinem
Namen an irgend etwas Zügelloses zu denken
lieben, — hat vom Publikum gesprochen,
„welches verlernt hat, in der Bändigung der
darstellenden Kraft, in der organisierenden
Bewältigung aller Kunstmittel die eigentliche
künstlerische Tat zu sehen", und hat ihm auf
solcher Bahn, wo sich alles Erleben schließlich
auf das Aufnehmen isolierter Einzelreize be-
schränken muß, Verarmung prophezeit. Doch
wir sind schon auf gutem Wege. dr. aler. wenzel.
 
Annotationen